So., 21.07.19 | 19:20 Uhr
Tunesien: Der Totengräber von Tunis
Viel weiß Chamesddine Marzoug nicht über die Menschen, die er begraben hat. Hier liegt ein kleiner Junge. Etwa fünf Jahre alt, das hat ihm der Pathologe gesagt. Das Kind wurde im Wasser neben einer Frau gefunden. Chamesddine hat beide Kopf an Kopf beerdigt. "Vielleicht war sie ja seine Mutter", sagt er. "Dann gehören sie doch zusammen."
Niemand hat ihm diese Aufgabe gegeben, er hat sie sich selbst gesucht. Er wollte den toten Flüchtlingen, die am Strand angespült werden, ihre Würde zurückgeben. Mehr kann ich nicht machen, sagt er, aber das will er wenigstens für sie tun. Natalia Bachmayer, ARD-Studio Madrid
Ein Friedhof neben der Müllkippe
Viel weiß Chamesddine Marzoug nicht über die Menschen, die er begraben hat. Hier liegt ein kleiner Junge. Etwa fünf Jahre alt, hat ihm der Pathologe gesagt. Das Kind wurde im Wasser neben einer Frau gefunden. Chamesddine hat beide Kopf an Kopf beerdigt. Vielleicht war sie ja seine Mutter, sagt er. Dann gehören sie doch zusammen. "Das quält mich am meisten. Dass ich so wenig über sie weiß. Ich weiß nicht, woher diese Menschen kamen und was sie gemacht haben. Vielleicht hätte dieser Junge ja einmal Pilot werden können "
Der "Friedhof der Unbekannten" liegt neben einer Müllkippe. Die Stadt hat das Grundstück gekauft und für Bestattungen freigegeben. Mittlerweile liegen hier 400 Menschen – Chamesddine hat sie muslimisch, mit dem Gesicht Richtung Mekka, beerdigt. Geld will er dafür nicht haben. Er fand einfach, dass die Toten einen würdigen Ort brauchten, als auf den Friedhöfen in der Stadt der Platz ausging. Und er zeigt Fotos, die er selbst auf dem Meer gemacht hat. Was von Menschen übrig bleibt, die wochenlang im Wasser getrieben sind. "Das muss man wirklich wollen, so etwas zu machen. Ich sage Dir, es ist nicht einfach, Frauen ohne Kopf, kleine Kinder, all diese verstümmelten Körper zu begraben."
Auf dem Meer treiben die gekenterten Boote
Oft geht Chamesddine an den Hafen. Er ist Fischer und kann wegen einer Fußverletzung nur noch selten aufs Meer fahren. Seine Kollegen finden bei der Arbeit immer wieder Schiffbrüchige. Illegale aus den Ländern südlich der Sahara, die über Libyen nach Europa flüchten wollen. Die bringen die Fischer dann hier in Zarzis an Land. Oder auch mal in Italien. Sechs von ihnen saßen dort gerade einen Monat im Gefängnis – wegen Schlepperei. "Ich finde es unmöglich, dass wir zu Verbrechern abgestempelt werden", klagt Salaheddine M´Charek von der Fischervereinigung in Zarzis. "Es ist unsere Pflicht, diese Menschen zu retten. Du kannst sie doch nicht einfach auf dem Meer sterben lassen."
Eine Viertelstunde vom Hafen entfernt zeigen uns Chamesddine und zwei seiner Freunde, wie das läuft mit dem Flüchtlings-Geschäft. Alle paar Hundert Meter gekenterte Boote – die Strömung hat sie Richtung Tunesien getrieben. "Das sind libysche Boote, mit zwei Etagen. Die Schlepper treiben da um die 300 Leute rein. Die im Unterdeck sterben oft schon bei der Überfahrt. Sie ersticken an den Benzindämpfen."
Flüchtlinge berichten von Mißhandlungen
Wieder an Land, bekommt Chamesddine einen Anruf. In der Nacht sind 68 Flüchtlinge in Seenot aufgegriffen worden. Jetzt sind sie in der Erstaufnahme und werden untersucht. Aus der Nähe wollen sie nur maskiert gefilmt werden. Fast alle waren in Libyen in Gefängnissen, berichten von schweren Misshandlungen. "Diese Verletzung stammt eindeutig von einem Schlag" erklärt der Arzt Mongi Slim. "Aber wir sehen hier oft noch viel Schlimmeres – bleibende Behinderungen, Schusswunden und so weiter"
Sie kommen aus dem Tschad, von der Elfenbeinküste, aus Mali. Sie sind hin- und hergerissen. Einerseits enttäuscht, dass sie es dieses Mal nicht nach Europa geschafft haben, andererseits froh, der Hölle in Libyen entkommen zu sein. Einer klagt: "Ich bin in Libyen wie ein Sklave behandelt worden. Schläge, bis die Knochen brachen. Und Erpressung: Ich musste meine Familie anrufen, damit sie mir mehr Geld schickt." Eine Frau meint: "Bei nächster Gelegenheit will ich aber wieder raus aufs Mittelmeer. Entweder, ich komme nach Europa und bin dort in Sicherheit – oder ich sterbe halt."
Der Traum von Europa bleibt
Europa oder Sterben – diese Frage hat sich auch in Chamesddines eigener Familie gestellt. Seine beiden Söhne sind nach Europa geflüchtet und haben Glück gehabt. Jetzt leben sie in Frankreich, illegal, und halten sich mit kleinen Jobs über Wasser. Chamesddine wusste nichts von den Fluchtplänen seiner Kinder. Jetzt bleiben ihm und seiner Frau nur zwei Töchter und die kleinen Enkel. Richtig glücklich ist er damit nicht. Seine Frau aber findet: es ist besser so. Auch viele junge Tunesier haben keine Zukunft, sagt sie. Frankreich sei das Beste, was ihren Söhnen passieren konnte. "Sie haben sich so verändert", sagt Moufida Ganzoui. "Plötzlich denken sie ganz positiv, haben Pläne. Sie wollen Geld sparen, sie wollen eine neue Ausbildung machen und so weiter".
Der Traum von Europa lässt sich nicht so einfach abstellen. Und zu viele, findet Chamesddine sterben daran. Auf seinem Friedhof liegen die Toten schon zu zweit übereinander in den Gräbern. Der Platz geht aus. "Natürlich wird das nicht aufhören. Ich glaube, dass die Zahl der Flüchtlinge – und damit auch der Toten – steigt. Wir werden wohl einen neuen Friedhof anlegen müssen. Hoffen wir mal, dass der nicht so schnell voll wird."
Überall in Afrika gibt es Eltern, deren Kinder sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. Viele Familien wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Jetzt haben die Toten nur noch mich, sagt Chamesddine. Ich mache hier weiter, so lange ich noch kann.
Stand: 23.07.2019 14:13 Uhr
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