So., 02.06.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ägypten – Palästinensische Hilfe für Gaza-Flüchtlinge
Die erste Ladung: Ventilatoren, Kühlschränke, Matratzen – heute bringen sie Familien das Nötigste, was es zum Wohnen braucht. Mohamed Abu Nahleh hat in Ägypten eine neue Aufgabe gefunden: Er hilft jenen, die wie er aus Gaza geflüchtet sind. Alles verloren haben. In einem Viertel von Kairo hat das "network for palestine", eine Sammelstelle, errichtet. Der 19-Jährige kam selbst erst vor zwei Monaten in Kairo an. "Das sind meine Leute, mein Volk aus Gaza, aus dem Krieg. Ich kenne das Leid in Gaza, habe es mit ihnen durchlebt. Jetzt helfe ich ihnen. Wenn ich Hilfe brauche, werden sie das Gleiche für mich tun."
Fast alle, die hier anpacken, sind selbst geflohen, haben in dem Netzwerk Halt und Gemeinschaft gefunden. Jeden Tag kommt neue Ware, die sie sortieren. Die Spendenbereitschaft der Ägypter ist groß. "Ich denke, weil wir das Gefühl haben, dass wir nichts anderes tun können, und dass das die einzige Sache ist, bei der wir helfen können. Es ist eine sehr traurige Situation, und als Ägypter haben wir nichts in der Hand, was wir ändern können. Das ist das Mindeste", sagt Menna El-Badry.
In einem Viertel vermittelt ihr Netzwerk Wohnungen. Denn der ägyptische Staat kümmert sich nicht. Mohamed postet Videos auf Social Media. Nur so hatte damals auch er nach seiner Ankunft von dem Hilfsangebot erfahren. Dann geht es rauf in den neunten Stock. Dieser Familienvater kann es kaum erwarten: Wenn seine Frau mit seinen beiden Kindern heute Abend nach Hause kommt, werden sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder Decken haben. "Innerhalb von Gaza sind wir dreimal umzogen und so dem Tod entkommen. In Rafah lebten wir auf der Straße. Unsere Situation war sehr, sehr schlecht", erzählt Abdallah Ishaak Hosni Habouj.
Zehntausende Palästinenser sind nach Ägypten geflüchtet
36 Familien beliefern sie in dieser Woche. 36 Schicksale, die Mohammed sich anhört. Geschichten, die ihn seine eigenen Erlebnisse, an sein eigenes Leid erinnern. "Ich kann es nicht vergessen. Ich versuche, mich davon abzulenken oder andere Dinge zu tun und mit den Menschen, die aus Gaza kommen, glücklich zu sein. Ihnen zu helfen, zu sehen, was sie brauchen. Ich versuche, wie ein normaler Mensch zu leben, aber innerlich kann ich es nicht, ich kann es nicht vergessen."
Rund 100.000 Palästinenser sollen es seit Oktober über die Grenze nach Ägypten geschafft haben. Es gibt Berichte über korrupte Grenzbeamte. Nach dem Vorstoß der israelischen Armee an die Grenze, hat Ägypten diese offiziell geschlossen. Die Regierung in Kairo fürchtet einen Ansturm von Geflüchteten ins eigene Land, gerät immer mehr unter Druck. Diese Woche in den Nachrichten das Thema: der israelische Angriff auf Zelte in Rafah. Wieder tote und verletzte Zivilisten, wieder Kinder. Und ein toter ägyptischer Soldat. Nach einem Schusswechsel mit israelischem Militär direkt an der Grenze. Experten warnen: In den 45 Jahre, in denen es den Friedensvertrag gibt, war das diplomatische Verhältnis zwischen Israel und Ägypten noch nie so angespannt. "Beide Parteien, Israel und Ägypten, sind bislang bestrebt, den Friedensvertrag nicht aufzukündigen. Aber wenn weitere ägyptische Soldaten getötet werden oder wenn ägyptische Soldaten an der Grenze die Nerven verlieren und Israelis töten, könnte die Lage weiter eskalieren", sagt Ammar Ali Hassan, Politikwissenschaftler an der Universität Kairo.
Hoffnung auf Grenzöffnung
Mohamed ist bei seinem Kollegen Abu Halima untergekommen, kann vorerst bei ihm wohnen. Ihr Engagement im Netzwerk hat sie zusammengeschweißt. In Gaza Stadt hatte Mohamed Träume. Wollte studieren, Doktor werden. Jetzt erinnern ihn Bilder an sein altes Leben und an seine Familie. Durch einen Bombenangriff sind 19 Familienmitglieder getötet worden. "Ich habe meinen Vater mit meinen eigenen Händen getragen. Und meine Brüder. 3 Tage haben wir gebraucht, um sie alle aus dem Schutt zu bergen. Meine Schwestern Shahd, und Shymaa, Yusuf, Ahmed und Omar. Ich kann sie nicht alle aufzählen..."
Der Flugzeuglärm über seinem neuen Zuhause macht Mohamed immer noch Angst. Das Geräusch bedeutet für ihn Krieg. Er sagt, er lebe mit der Hoffnung, dass Ägypten den Grenzübergang doch irgendwann öffnet. Wenn ich in Ägypten für mich selbst sorgen kann und eine Arbeit finde, dann kann ich, wenn der Grenzübergang wieder geöffnet wird, zurück nach Gaza gehen, um meine Leute wiederzusehen und ihnen zu helfen. Wann und ob die Grenze nochmal öffnet, völlig offen. Ebenso, wer sie in Zukunft kontrolliert. Morgen werden sie wieder losziehen, denen helfen, die es hergeschafft haben.
Autorin: Vera Rudolph, ARD-Studio Kairo
Stand: 02.06.2024 20:21 Uhr
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