Mo., 03.12.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Ägypten: Das Blindenorchester
Unterhaken auf dem Weg zur letzten Probe. Heute Abend gastieren sie an der Universität von Mansoura im Nildelta. Es ist ihr fünftes Konzert in vier Wochen. Zum Jahresende häufen sich die Termine für das erste und einzige Blindenorchester der Welt. Musizieren ohne Notenständer. Der Dirigent läuft durch die Reihen, spürt Misstönen nach und korrigiert. Schließlich sind sie nachher ganz auf sich allein gestellt.
Musikschule holt blinde Mädchen aus dem Schatten
"Wenn wir ein Stück angehen, nehmen wir uns viel Zeit. Die Noten müssen in ihrem Gedächtnis eingraviert sein. Sie haben ja keine klassische Partitur vor sich, müssen alles auswendig lernen. Und das ist bei einigen Werken wirklich viel", erzählt der Dirigent Mohammed Saad Basha. Licht und Hoffnung heißt die Schule im Kairoer Stadtteil Heliopolis, die blinde Mädchen aus dem Schatten holt, sie fördert, ihnen eine Perspektive bietet. Mittlerweile lernt, lebt und musiziert hier schon die vierte Generation. Knapp 100 Schülerinnen sind es. Was heute selbstverständlich scheint, war 1961 noch ein Wagnis.
Als Zeinab an der Schule aufgenommen wurde, standen Blinde noch viel zu oft im Abseits. Ohne Chance auf Teilhabe und Würde. Heute sieht sich die 57-jährige als Mutmacherin für die Jüngsten.
"Wäre ich der Schule nicht beigetreten, wäre mein Leben sehr hart gewesen. Alle, die hier ausgebildet werden, haben eine große Zukunft vor sich", so die Musiklehrerin Zeinab Ibrahim Khalil.
Musik ist längst nicht alles
Ein Instrument zu lernen ohne Augenlicht, erfordert mehr als nur Talent. Reichlich Stehvermögen auch und eine einfühlsame Lehrerin. Zeinab entdeckte mit zwölf ihre Liebe zur Oboe, lernte die Braille-Notenschrift. Jahre später wurde sie im Orchester aufgenommen. Der Ritterschlag. Heute unterrichtet sie, will von dem zurückgeben, was sie einst erhalten hat. "Es ist nun mal unsere Pflicht, die Jüngeren zu unterrichten. Die Generationen lernen voneinander. Ich bin sehr stolz, wenn es eine meiner Schülerinnen ins Orchester schafft. Dreien ist das bisher schon gelungen", erzählt Zeinab Ibrahim Khalil.
Musik ist längst nicht alles. Die Schülerinnen lernen neben allen anderen Fächern hier auch Englisch. Neben der Geige Schaimaas zweite große Leidenschaft. Von ihren Schülerinnen verlangt sie Disziplin und Pünktlichkeit. Denn ohne Englisch sind sie im Ausland aufgeschmissen. Keine weiß das besser als Schaimaa.
"Schon als Kind habe ich Sprachen geliebt. Ich wollte in vielen Ländern Freundschaften schließen, fremde Kultur verstehen und lernen", sagt Shaimaa Yehia Zakareia.
Andere mit ihrer Kunst berühren
Generalprobe vor dem Konzert. Das Programm ist anspruchsvoll. Klassiker und Unterhaltsames aus aller Welt. Noch immer sitzt nicht jeder Ton. Für die Musikerinnen sind es lange Tage. Um fünf beginnen sie. Um neun sind sie zu Ende. Lernen, musizieren, unterrichten. Und doch sind sie hier glücklich. "Ich bin sehr stolz. Wenn ich Musik spiele, fühle ich mich wie in einer anderen Welt, bin nicht mehr auf dieser Erde. Ich vergesse alles, die Probleme, die Müdigkeit. Ich bin dann ganz bei mir, in der Welt, die ich liebe, in der ich gerne lebe", erzählt Shaimaa Yehia Zakareia.
Und doch eine bedrohte Welt. Die Mädchen zahlen nichts für Verpflegung, Unterkunft und Unterricht. Wie lange noch, ist ungewiss. Die Spenden sind seit Jahren rückläufig. Beirren lassen sie sich davon nicht. Die letzten Sekunden vor dem Auftakt beim Konzert in Mansoura. Der Dirigent zieht sich zurück. Die Bühne gehört ihnen ganz allein. Vierzehn Werke sind es. Ein bunter Mix aus Moderne und Klassik. Im Publikum sind viele sichtlich angetan.
"Ich habe nicht erwartet, dass sie so toll spielen. Ich bin wirklich beeindruckt vom Konzert und auch den Musikerinnen. Es ist erstaunlich, wunderbar. Ich wünsche ihnen weiter viel Erfolg und Glück", so Hala El Ekreimy.
Andere mit ihrer Kunst berühren, als Musikerinnen begeistern, nicht als Blinde. Das ist es, worum es ihnen geht.
Autor: Daniel Hechler / ARD Studio Kairo
Stand: 30.08.2019 03:43 Uhr
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