So., 02.12.18 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Nähen für ein freies Leben
Tiefe Wunden hat der syrische Bürgerkrieg in die Familie von Meryem gerissen. Ihr Mann wird vermisst, ihr 15-jähriger Sohn starb bei einem Bombenangriff, erzählt sie.
Viele Familien ohne Väter in Izmir
"Nachdem ich meinen Sohn verloren hatte, hab ich mir gesagt: Du verlierst nicht noch ein weiteres Kind. Syrien zu verlassen war sehr schwer für uns, denn meine Tochter kann nicht laufen. Wir haben unterwegs viele schlimme Sachen erlebt", erzählt Meryem. Über viele Umwege landete Meryem in einem der ärmsten Viertel der Stadt Izmir, an der türkischen Westküste – hier sind zehntausende Syrer gestrandet, vor allem Frauen und Kinder. In einer alten Schuhfabrik besuchen wir die Hilfsorganisation TIAFI. Das Team um Markus Brandstetter kümmert sich um Familien ohne Väter, denn die Frauen stünden oft vor riesigen Herausforderungen.
"Weil sie einfach fremd hier sind, nicht wissen, wo gibt es Jobs oder an welche Stellen kann ich mich wenden. Andere Gründe sind auch psychologische Hintergründe, viele der Frauen sind auch traumatisiert", so Markus Brandstetter.
Nähen für ein freies Leben
Die Organisation will den Frauen Perspektiven aufzeigen und macht sie deshalb fit für den Arbeitsmarkt. Auch Meryem ist hier, sie hat monatelang an einem Nähkurs teilgenommen. Jetzt stellt sie mit anderen Frauen Taschen und Rucksäcke her, die in Europa verkauft werden. Durch den Erlös und durch Spenden werden den Frauen ihre Wohnungen und Lebensmittel bezahlt.
"Endlich etwas tun zu können ist unglaublich wichtig für mich. Das ist für mich auch eine Selbstbestätigung. Und dass ich meine Familie damit durchbringe ist das wichtigste daran", sagt Meryem. Während die Mütter arbeiten, werden ein Stockwerk weiter unten die Kinder betreut – auf Türkisch, damit der Einstieg ins Schulsystem leichter fällt. Meryems Tochter Nur hat die Aufnahmeprüfung vor kurzem geschafft.
Gegenseitige Hilfe
Dann ist es Zeit fürs Mittagessen. Die Frauen kochen nicht nur für sich und die Kinder, sondern auch für türkische Bedürftige. Das soll verhindern, dass die Flüchtlinge von der einheimischen Bevölkerung angefeindet werden. Draußen warten bereits einige Männer und Frauen aus der Nachbarschaft. Dass die syrischen Frauen hier für sie kochen finden sie gut, dennoch glauben viele, dass die Türkei zu viele Flüchtlinge aufgenommen hat.
"Gegenseitige Hilfe ist natürlich etwas Gutes, das muss sein, aber es ist ein Fehler, wenn die eigenen Bürger in den Hintergrund und die Syrer in den Vordergrund rücken. Das gefällt dem türkischen Volk nicht", sagt ein türkischer Mann.
Meryem kennt diese Vorbehalte. Deshalb ist sie umso bemühter, ihre Arbeit in der Suppenküche gut zu machen. Mit ihrem Leben hier sei sie zufrieden, sagt sie. Den Traum vieler Syrer nach Europa zu gehen, habe sie nicht mehr.
Autorin: Katharina Willinger / ARD Studio Istanbul
Stand: 02.12.2018 20:23 Uhr
Kommentare