So., 06.09.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ägypten: Drei Jahre Gefängnis für eine nackte Schulter
Es sind mittlerweile mindestens 12 Fälle, die der selbsternannte Moral-Anwalt Ashraf Nagy zur Anklage gebracht hat, wegen Verstoßes gegen die Werte der Familie. Junge Frauen, die harmlose TikTok-Posts von sich veröffentlichten und dafür jetzt im Knast sitzen. Der ägyptische Staat macht mit, verurteilt in den Gerichten die jungen Frauen. Menschenrechtler warnen: Dies sei ein Weg die aufstrebenden unteren Schichten einzuschüchtern, denn wer Social Media nutzt, könnte auch politisch aktiv werden.
Die Anklage: Verstoß gegen die öffentliche Moral
Ihre Tochter Manar ist im Gefängnis. Weil sie Videos auf TikTok gepostet hat. Mit ihrem Einverständnis. Sie selbst ist zwar religiös konservativ, aber wollte trotzdem, dass ihre Tochter mit der Zeit geht. Die Tochter Manar, geschieden. Mutter eines Kindes, arbeitete als Flugbegleiterin. Sie entschied sich dann aber auch zu Modeln, wurde auf TikTok zu einer Influencerin. "Ich liebe das sehr. Und mit der Zeit wird das für mich zu einem Vollzeitjob. Ich kann sogar ganz mit der Flugbegleitung aufhören." Eine Entscheidung mit dramatischen Folgen.
Die Staatsanwaltschaft erließ einen Haftbefehl. Für ihre Videos auf TikTok. Die Anklage: Sie verstoße damit gegen die öffentliche Moral und gegen die Werte der Familie. "Es gibt nichts, was man gegen sie verwenden könnte", sagt die Mutter Hayat Ramadan Mohamed, "keine frivolen Fotos. Es gibt Leute, die werden mich fragen, warum zieht sich deine Tochter sehr freizügig an. Das war für die Modeschau. Es gibt Firmen, mit denen sie Verträge hatte und für die sie Werbung machte." Drei Jahre Gefängnis für ihre Tochter. In der ersten Instanz. Für ein paar Bilder. Und eine Geldstrafe von umgerechnet 16.000 Euro. Das kann sich die Familie nicht leisten. Sie lebt in einer Stadt 70 Kilometer von Kairo entfernt. Die Einkommen hier sind niedrig.
Er ist der Kläger. Der Anwalt Ashraf Farahat. Er hat bisher 12 junge Frauen vor Gericht angeklagt. "Ehre ist nicht auf die Jungfräulichkeit eines Mädchens beschränkt. Nein, Ehre bezieht sich auch auf das Verhalten eines Mädchens. Ein Mädchen sollte Scham haben. Das ist Ehre. Wenn ich meinen Körper anderen Menschen zeige, dann habe ich keine Ehre." Er sieht sich als Tugendwächter und die Staatsanwaltschaft unterschreibt einen Haftbefehl nach dem anderen.
Männer fürchten Kontrollverlust
Auch sie ist wegen ihrer Videos zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Drei Jahre Gefängnis. Begründung: Sama el Masry verletze die öffentliche Moral und vor allem die Werte der Familie. So das Urteil hier von diesem Gericht. Der Anwalt von Sama el Masry akzeptiert das Urteil nicht. Ashraf Nagy geht in die Revision. Vor allem der Paragraf "Werte der Familie" ist aus seiner Sicht ein Instrument der Justiz, das der Willkür Tür und Tor öffnet. "Was sind denn Werte der Familie?", fragt Anwalt Ashraf Nagy. "Sie sind von Familie zu Familie unterschiedlich. Manche Väter lassen ihre Töchter ohne Kopftuch raus, das Haar offen, mit Shorts oder Minirock und es gibt andere Väter, die lassen ihre Töchter nicht raus ohne Kopftuch oder Vollverschleierung."
Auch TikTok ist vielfältig in Ägypten, Influencerinnen mit Kopftuch gibt es auch. Ghadeer Ahmed, Aktivistin für Frauenrechte, meint deshalb: Um Moral gehe es gar nicht. Es geht darum, dass sich junge Menschen vor allem aus den aufstrebenden unteren Schichten Freiräume schaffen. "Der Staat profitiert davon, denn so bleibt das soziale System erhalten. Jeder an seinem Platz, jeder in seiner Klasse. Die Frauen hören auf die Männer und wenn sie nicht auf die Männer hören, dann werden wir bei diesem Thema eingreifen."
Kontrollverlust. In einer männerdominierten Gesellschaft unerwünscht. Die Jugend hat dies von früh auf verinnerlicht. Unabhängig vom Geschlecht. "Die Mädchen, sie verdienen es, dass man sie einsperrt", meint Menna Saber. "Es ist ihr Recht sie einzusperren, weil sie sich ausziehen in den Videos. Die eine trägt Spaghettiträger und kurze Hosen. Das geht nicht." Und der Schüler Fathi Mohamed meint: "Sie verdienen, was mit ihnen passiert ist, denn sie entblößen ihren Körper und verbreiten Prostitution im wahrsten Sinne des Wortes. Auf TikTok."
Die Justiz schlägt gnadenlos zu
Shaimaa, sie fotografiert, wird von umstehenden jungen Männern angefeindet, weil sie die Tik-Tok Frauen verteidigt, die Haftstrafen für unangemessen erachtet. "Nein, Nein, Nein. Soweit sollte es nicht kommen. Es gibt Zeiten, da ist etwas in Mode, und danach ist es out, und man lacht über sich selbst und fragt sich, was man damals gemacht hat oder man nimmt es hin. Aber es ist die persönliche Freiheit."
Der Kläger und Anwalt Ashraf Farahat sieht das natürlich anders mit der persönlichen Freiheit. Für ihn ist es eine Kampagne mit einem politischen Ansatz. Den er juristisch führt. "Wir haben den Slogan gewählt: 'Macht sauber!' Unsere Botschaft an die Gesellschaft: korrigiere dein Verhalten, dann sind deine Angelegenheiten auch in Ordnung. Wir haben ein Prinzip zugunsten der Gesellschaft." Die Interviewanfragen des "Weltspiegels" beim Staatsanwalt, beim Richter und beim Justizminister blieben unbeantwortet. Keine Reaktion.
Die Frage wäre gewesen: Warum schlägt die Justiz so gnadenlos zu? Bis zu drei Jahre Haft für Videos dieser Art. Wie bei Hanin Hossam, auch sie wurde verhaftet, weil sie auf Tiktok postete. Sie ahnte im Voraus die Bedrohung und schickte einen Tag bevor die Polizei sie mitnahm einen Hilferuf ins Netz. "Ich weine zum ersten Mal auf Video. Ich habe nie ein unpassendes Wort ausgesprochen und war nie in einer unangebrachten Situation. Ich will Respekt."
Autor: Alexander Stenzel, ARD-Studio Kairo
Stand: 06.09.2020 23:08 Uhr
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