So., 20.12.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Afghanistan: Befreit, aber nur ein bisschen
"Mit 18 war für mich klar, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben. Frauen wie Männer haben Ideen und Mut, sie leisten genauso viel." Das sagt Zahra Kazimi. Sie ist Unternehmerin, lebt in dem Teil Afghanistans, der von der international anerkannten Zentralregierung kontrolliert wird. Befreit nur soweit, dass es ihr nicht verboten war, eine eigene kleine Textil-Manufaktur aufzubauen. Vorurteile bleiben, der Kampf gegen traditionelle Widerstände auch – vor allem aber die Unsicherheit und die Korruption in ihrem Teil des geteilten Landes.
Traum von der Selbständigkeit
An diesem Morgen ist Zahra Kazimi unterwegs zu ihrer eigenen Firma. Der Weg führt durch Bamiyan über eine der Haupthandelsrouten der einstigen Seidenstraße. Hier trafen sich jahrtausendelang Händler aus Ost und West. Das prägt Zahra Kazimis Menschenbild. "Mit 18 war für mich klar, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben. Frauen wie Männer haben Ideen und Mut, sie leisten genauso viel. Für mich gibt es keine Unterschiede." Es war immer ihr Traum, sich selbständig zu machen. Vor vier Jahren gelang es ihr. Die afghanische Regierung erlaubte ihr – als Frau – eine Firma zu gründen.
Zahra Kazimi kauft bei den Bauern der Umgebung Wolle, die sie auf ihren Webstühlen verarbeiten lässt. In ihrem Betrieb arbeiten ausschließlich Frauen. "20 Frauen sind direkt angestellt hier in meiner Firma. Ich beschäftige aber etwa 400 weitere Frauen. Sie arbeiten von zu Hause aus, in den Dörfern verschiedener Bezirke." Für Männer sei es einfach Arbeit zu finden, für Frauen aber nicht. Zahra Kazimi will das ändern. "Mein Unternehmen widme ich den Bedürftigen, Witwen, armen, obdachlosen Frauen und vor allem den Frauen, die die ihren Ehemann verloren haben, die nicht lesen oder schreiben können. Sie haben keinen, der für sie sorgt. Für sie habe ich meinen Betrieb gegründet, damit sie ihre Familien ernähren können."
Sorge vor der Rückkehr der Taliban
Wenn sie viele Frauen beschäftigen will, muss ihr Unternehmen Geld abwerfen. Zahra Kazimi hat alles genau durchgerechnet. Sie verkauft ihre Produktion im eigenen Laden. Es hat sich herumgesprochen, dass man hier gut bedient wird. Das Geschäft floriert. "Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Frauen so wie Männer arbeiten können, weil wir eine sehr konservative Gesellschaft sind", meint Abdul Hameed, Kunde von Zahra Kazimi. "Die erlaubte Frauen bisher nicht zu arbeiten, das ändert sich jetzt. Trotzdem werden Frauen nur wenige Jobs angeboten. Aber langsam begreifen die Leute, dass Frauen so ihre Familie unterstützen können. Und den Familien geht es wirtschaftlich viel besser. "
Zahra Kazimi hat sich für ihren Laden die wohl prominenteste Stelle im gesamten Bamiyan-Tal ausgesucht. Direkt vor den Überresten der einst größten aufrecht stehenden Buddha-Statuen der Welt: 1.600 Jahre alt und UNESCO-Weltkulturerbe. Die Taliban zerstörten sie 2001 – als symbolische Vernichtung des als westlich verstandenen Kulturerbes. Ein Jahr später wurden die Taliban von hier vertrieben, seitdem wird das Gebiet von der Zentralregierung kontrolliert.
Bamiyans Geschäftsfrauen haben sich zusammengeschlossen. Dass die Regierung in Kabul mit den Taliban nicht nur über Frieden, sondern auch über Machtteilung spricht, befremdet sie. Ihre Familien haben die Taliban-Herrschaft erlebt. Die Gräueltaten – vor allem gegenüber Frauen – haben ein Trauma hinterlassen. "Wir machen uns große Sorgen, dass die schrecklichen Szenen sich wiederholen werden. Wir werden es nicht akzeptieren, dass wir wieder zurück in dunkle Zeiten müssen" sagt Restaurantbetreiberin Zahira Haidari. "Wir sind weltoffene Frauen. Wir werden niemals in die Vergangenheit zurück gehen."
Die Friedensgespräche stocken
Die Friedensgespräche für Afghanistan machen keinen Fortschritt. Die Frauen protestieren. Nur vier Frauen sitzen im Verhandlungsteam der afghanischen Regierung der rein männlichen Taliban-Delegation gegenüber. "Ich habe Angst, dass wir unsere Fortschritte, die wir seit 18 Jahren für die Frauen erreicht haben, wieder verlieren. Deshalb erheben wir hier unsere Stimme", so Roqia Hussani, Afghan Women’s Network.
Sechs Töchter hat Zahra Kazimi. Seitdem sie selbständig ist, kann sie ihre Mädchen auf Privatschulen und Universitäten schicken. Sie hat für ihre Familie ein Haus gebaut. Früher reichte es oft nicht für das Nötigste. Ihr Mann unterstützt und verteidigt sie – auch gegen die konservativen Nachbarn, die über die Geschäftsfrau herziehen.
Autorin: Sibylle Licht, ARD-Studio Neu-Delhi
Stand: 20.12.2020 21:34 Uhr
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