So., 08.11.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Afghanistan: Inside Taliban
Fast eine Woche lang fuhr Wolfgang Bauer durch das von den Taliban kontrollierte Gebiet. So lange, wie kein anderer westlicher Journalist. Begleitet von Kämpfern, die bemüht waren, ein befriedetes Land zu zeigen. Aber auch ein leeres und ausgemergeltes Land. Durch Vermittlung der USA verhandeln die Taliban zurzeit mit der international anerkannten Zentralregierung in Kabul über einen Frieden und eine Beteiligung an der Regierung. Eine Reportage von Wolfgang Bauer in Zusammenarbeit mit dem "Zeit-Magazin".
Schon 80% des Landes von den Taliban kontrolliert
Afghanistan – die atemberaubende Hitze weicht, der Winter steht bevor. Eine Zwischenzeit – nicht nur bei den Jahreszeiten, sondern auch politisch. Nach monatelangen Verhandlungen mit den Führern der Taliban dürfen wir endlich aus ihrem Herrschaftsgebiet berichten. 80% des Landes haben sie bereits unter ihrer Kontrolle. Wir fahren auf dem Highway von Kabul in Richtung Süden. Schon nach wenigen Kilometern erinnert die Straße eher an ein Schlachtfeld.
Wir erreichen Ghazni, eine der strategisch wichtigsten Provinzhauptstädte des Landes, von allen Seiten belagert durch die Taliban. In der Stadt werden nur wenige Gebäude von der Regierung gehalten. Der Rest wird beherrscht von kriminellen Banden, Entführungen sind an der Tagesordnung. Man rät uns, den Wagen am besten gar nicht zu verlassen. Kurz nach der Stadt sind wir verabredet mit einer Eskorte der Taliban.
Ich bin nervös, nach 20 Jahren Arbeit in Afghanistan ist es das erste Mal, dass ich Taliban-Kommandeuren begegnen werde. Schnell merken wir aber, dass auch die Kämpfer unsicher sind. Die meisten von ihnen haben noch nie mit einem westlichen Journalisten gesprochen. In einer Dorfschule im Rashidan-Distrikt empfangen uns die örtlichen Führer der Taliban. Er erzählt, warum er Talib geworden sei. Er habe Koranschulen in Pakistan besucht, die Kaderschmiden der Taliban. Hier habe man ihm erzählt, dass die NATO-Länder Gräueltaten in Afghanistan begehen würden. Es sei seine religiöse Pflicht, die Fremden aus dem Land zu vertreiben. Deswegen habe er zur Waffe gegriffen – einer Kalaschnikow, die er auch heute noch immer bei sich trägt.
Appell an die Flüchtlinge in Deutschland
Der Taliban-Gouverneur führt uns zu den Überresten des ehemaligen Regierungssitzes, der vor acht Jahren von den Taliban gestürmt wurde. In diese ausbetonierte Kloake hätten die verhassten Sicherheitskräfte damals ihre Gefangenen geworfen, darunter auch Taliban, behauptet er. Ich habe meine Zweifel. Die Taliban prangern Menschenrechtsverletzungen der Regierung an, verschweigen aber, dass auch ihnen vorgeworfen wird, ihre Gegner zu foltern.
Bei den Taliban gibt es längst auch Journalisten – wie den erst 23-jährigen Nizar aus ihrer zentralen Medienabteilung. Er diktiert den meisten Taliban auf unserer Reise die Antworten, die Einhaltung der reinen Propaganda-Lehre. Er wirft der Regierung vor, gottlos und korrupt zu sein. Bei ihnen hingegen gebe es keine Korruption und keinen Streit. Die Menschen seien unter der gerechten Scharia vereinigt und überglücklich über die ordnende Hand der Taliban. Er appelliert an die afghanischen Flüchtlinge in Deutschland, zurückzukommen und sich am Wiederaufbau zu beteiligen. Dann aber droht er denen, die auf Seiten der Regierung Verbrechen begangen hätten. Sie müssten in Afghanistan mit der ganzen Schärfe der Scharia rechnen. Auf dem Dach des Gebäudes die Flagge der Taliban. In Afghanistan weht sie jetzt wieder an vielen Orten. In diesem Distrikt sind die Taliban die Sieger. Am Boden - aber nicht im Luftraum darüber. Noch immer meiden die Taliban feste Adressen und sind ständig in Bewegung. Aus Angst vor Drohnenangriffen.
Wir fahren hinauf in die Berge in den Distrikt von Nawur. Unbegleitet - die Taliban erlauben es. Dort oben leben schiitische Hazara, während die Taliban vornehmlich sunnitische Paschtunen sind. In den 90er Jahren hatten die Gotteskrieger regelrechte Massaker an den Hazara verübt. Droht nun, nach der Rückeroberung des Distrikts durch die Taliban, weiteres Blutvergießen? Und erwartet eine große Überraschung. Eine Schule, die es unter den Taliban eigentlich gar nicht geben dürfte: 150 junge Frauen, unterrichtet bis zur 12. Klasse. Jedes Jahr haben es ein paar Mädchen auf die Universität geschafft. Die Taliban dulden es, mischen sich nicht ein, sagt uns der Rektor. Bisher jedenfalls …
Hass auf die Bundeswehr
Es geht jetzt immer höher hinauf, bis auf 3000 Meter. Die Luft wird dünn, mir wird schwindelig. Der Taliban-Kommandeur von Nawur erwartet uns in einem kleinen, abgeschiedenen Dorf. Wie auf unserer ganzen Reise durch die Talibangebiete: nur noch wenige Menschen leben hier in diesem Ort. Die Dorfältesten sind gezwungen, die Taliban zu bewirten. Schwere Regenfälle haben die Ernte fast vernichtet. Obwohl die Alten bitten, darauf zu verzichten, bestehen die Taliban auf einem großzügigen Mittagsmahl. Die Alten wissen, dass ihre Familien jetzt tagelang hungern müssen.
"Die Deutschen sind mit den Amerikanern nach Afghanistan einmarschiert", sagt der Taliban-Kommandeur. "An den Gräueltaten der Amerikaner waren auch die Deutschen beteiligt." Er fordert Hilfsorganisationen auf, den Taliban zu helfen das wieder aufzubauen, was die ausländischen Armeen zerstört hätten. Er empfinde noch immer Hass gegenüber den Bundeswehr-Soldaten und könne ihnen nicht verzeihen. Wörtlich: "Die Deutschen sind hierhergekommen, um Afghanistan zu zerstören. Deswegen hassen wir sie." Und dann tun Ahmadi und seine Leibwächter das, was sie am besten können: Schießen; zur Entspannung. Einer von ihnen benutzt dabei ein Gewehr, das von einem Amerikaner stammt, den er im Kampf getötet.
Auf der Rückfahrt nach Kabul - überall ausgebrannte Wracks und gestürmte Militärposten. Überreste der beinahe geschlagenen Regierungsarmee, die einst Hoffnung des Westens war. Afghanistan nach vier Jahrzehnten Krieg: Frieden ist noch nicht in Sicht.
Autor: Wolfgang Bauer
"Afghanistan – Zukunft mit den Taliban?", so heißt auch unser Podcast. "Weltspiegel Thema" in der ARD– Audiothek und überall wo es Podcasts gibt.
Stand: 08.11.2020 21:40 Uhr
Kommentare