So., 26.06.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Afghanistan: Leben unter Taliban
Es ist sieben Uhr am Morgen in Kabul. Wir sind wir mit dem lokalen Manager des Welternährungsprogramms verabredet. Die UN-Organisation versorgt seit Januar 30.000 Menschen in Kabul mit Mehl, Öl, Linsen und vitaminreicher Zusatznahrung für unterernährte Kinder. Die Familien sind akut von Hunger bedroht. Seit Juni aber kann die Organisation weniger Menschen unterstützen. "Das Welternährungsprogramm hat die Zahl der Familien um 20 Prozent gekürzt, weil es an Nahrungsmittelspenden mangelt", sagt Rohallah Saim von der 'Afghan Women Cooperation and Promotion Organisation'.
Gründe sind der Krieg in der Ukraine und weltweit steigende Lebensmittelpreise. Vor der Machtübernahme der Taliban haben viele für Angestellte der Regierung gearbeitet. Seit sie entlassen wurden, haben Hausangestellte und Wäscherinnen kein Einkommen mehr. "Sie sind Analphabeten, wie können sie Arbeit finden? Es gibt keine Fabrik, in der diese Menschen arbeiten könnten, es gibt keine anderen Jobs für sie", erklärt Rohallah.
Es mangelt an Geld und Jobs
Siya Moy war eines dieser Hausmädchen. Die Familie, für die sie gearbeitet hat, ist nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan geflohen. "Diese Menschen haben nun das Land verlassen. Manchmal arbeite ich jetzt bei anderen und mache ihre Wäsche, um die Miete zu bezahlen. Die Lebensmittel hier helfen uns", erzählt die Haushälterin.
Wir begleiten sie nach Hause. Sie lebt am Stadtrand von Kabul. Die Kinder brauchen jetzt etwas zu essen. Die Taliban fordern, dass Frauen nur noch wenn nötig das Haus verlassen sollen. Sie ist völlig verzweifelt: "Niemand kann unseren Schmerz nachfühlen. Ich habe eine Menge Probleme, mein Mann wohnt nicht mehr hier, er ist seit zwei Jahren verschwunden. Das Leben mit diesen vier Kindern ist sehr schwer für mich, wenn sie etwas essen wollen, kann ich ihnen nicht mal Obst kaufen.“
Auf dem größten Markt von Kabul sind viele Menschen unterwegs. Die Händler klagen aber über fehlendenden Umsatz. Hier gibt es keinen Mangel an Lebensmitteln, aber die Preise ziehen immer mehr an, erzählt uns Lebensmittelhändler Wasim: "Die Preise sind um 30 Prozent gestiegen." Dieser Kunde kauft für seine zwölfköpfige Familie ein. Es muss für den ganzen Monat reichen. "Wir müssen ja Lebensmittel kaufen, auch wenn unsere finanzielle Situation nicht gut und die Preise zurzeit hoch sind, nicht nur Reis, alles ist teurer", erzählt der Kunde.
Taliban versuchen jeglichen Widerstand zu unterbinden
Wir fahren in eines der besseren Wohnviertel von Kabul. Eine Gruppe von Akademikerinnen hat uns eingeladen, über die wir im Mai berichtet haben. Sie protestierten gegen die Vollverschleierung von Frauen. Einige Frauen der Gruppe wurden verhaftet. "Die Taliban wollen die Gelegenheit nutzen, die Frauen zu verbannen und sie wollen daraus einen Vorteil ziehen. Es ist jetzt zehn Monate her, dass sie den Frauen verboten haben, das Haus zu verlassen, zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Sie wollen sich damit beliebt machen", erklärt Ökonomin Laila Basim.
Die Frauen dürfen nicht mehr arbeiten, weil sie gegen die Taliban auf die Strasse gegangen sind, werden sie beleidigt und mit dem Tode bedroht. "Ja, ich wurde viele Male bedroht. Ich habe Anrufe und Textnachrichten erhalten, in denen es hieß, wir sollten mit unserem Protest aufhören. Aber das wird uns nicht stoppen, bis wir unsere Rechte bekommen", sagt Islamwissenschaftlerin Mahjoba Habibi.
Doch nicht alle aus der Gruppe sehen das noch so. Zhalia Parsi hat uns noch im Mai gesagt, sie wolle für das Recht der Frauen auf Arbeit, Bildung und Teilhabe in der Gesellschaft kämpfen. Jetzt möchte sie das Land verlassen. Der Protest der Frauen bekomme einfach zu wenig Unterstützung. Rohallah Saim sieht täglich, welche Folgen es hat, wenn Frauen bekämpft und ausgegrenzt werden: "Die Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Vergleicht man das Land mit einem Vogel, steht der rechte Flügel für die Männer und der linke Flügel für die Frauen. Ohne Flügel kann man nicht fliegen. Man kann seine Zukunft nicht aufbauen. Wie also soll sich Afghanistan entwickeln, wenn die Frauen nicht arbeiten dürfen?"
Diskriminierung, Hunger und jetzt noch ein Erdbeben. Gewaltige Probleme für die Menschen in Afghanistan.
Autorin: Sibylle Licht/ARD Neu-Delhi
Stand: 30.06.2022 17:13 Uhr
Kommentare