So., 14.11.21 | 18:05 Uhr
Das Erste
Afghanistan: Verlierer sind Frauen und Kinder
Drohungen gegenüber Hebammen
Ohne Burka verlässt Muzhgan nicht mehr das Haus. Ihre Wege sind ohnehin nur noch kurz. Sie hat Angst auf die Straße zu gehen. Sie lebt in einem kleinen Ort der Provinz Nangahar. Im Laden um die Ecke will sie etwas Gemüse kaufen. Es ist alles teuer geworden. Die Auswahl bei dem Händler ist auch nicht mehr groß. "Vor den Taliban hatten wir alles. Jetzt aber können wir uns kaum noch Lebensmittel leisten. Wir haben so viele Probleme. Noch vor wenigen Monaten hatte ich ein Gehalt und konnte davon meine Familie ernähren, aber das ist vorbei."
Kaum hat sie das Grundstück der Familie wieder erreicht, verschafft sie sich Luft und zieht die Burka vom Kopf. Die 25jährige war Hebamme im örtlichen Krankenhaus. Bevor die Taliban die Macht übernahmen, betreute sie die schwangeren Frauen und deren Kinder in der Region. "Ich habe im lokalen Krankenhaus gearbeitet. Auf dem Weg wurde ich oft bedroht. Sie sagten mir, ich solle nicht zur Arbeit gehen. Wenn du trotzdem gehst, werden wir dich töten. Ich bin dann nicht mehr hingefahren und habe meine Arbeit aufgeben müssen."
Mit den Taliban sei nicht zu diskutieren, sagt sie. Die machten alles gleich zum Gesetz. Nicht einmal die Dorfältesten hätten noch Einfluss. Ihr Leben habe sich seit der Machtübernahme komplett geändert. "Die Frauen sind in Schwierigkeiten, seit die Taliban die Macht übernommen haben. Ob sie nun an der Universität waren oder wie ich Hebammen sind, ob sie nun Verantwortung für eine kleine oder große Familie tragen, viele sind jetzt arbeitslos."
Es gibt zu wenig medizinisches Personal
Aziza ist eine Kollegin und erzählt eine ähnliche Geschichte. Auch sie ist Hebamme und sei bedroht wurden. Den Druck habe sie nicht mehr aushalten können. "Viele Leute waren dagegen, dass ich weiter als Hebamme arbeite. Wenn diese Drohungen andauern und nun auch noch die Löhne nicht gezahlt werden, dann glaube ich nicht, dass noch irgendeine Frau diese Arbeit machen will." Sie wurde zur Hausfrau wider Willen. Wenn sie einkaufen geht, muss sie nun anschreiben lassen, weil sie nicht zahlen kann. Freunde borgen ihr manchmal etwas. Die Familie kann das Schulgeld für die Kinder nicht mehr aufbringen. Sie habe ihre Arbeit geliebt, sagt die 28jährige, weil sie anderen Frauen und ihren Kindern helfen konnte. "Die Krankenhäuser haben viele Patienten. Das Hauptproblem ist Personalmangel, auch weil Leute wie ich, nicht mehr da sind."
Jalalabad, Provinzhauptstadt von Nangahar. Das zentrale Krankenhaus. Am Eingang patrouillieren Taliban. Im Hof warten die Familien darauf, dass ihre Angehörigen behandelt werden. Vor allem die Kinderabteilung ist dem Ansturm kaum noch gewachsen. Viele Kinder sind unternährt und kommen auf die Spezial-Station. Sie ist die einzige hier, zuständig für vier Provinzen der Region. "Mein Kind ist schwach, es hat Nierenprobleme", sagt eine Mutter. "Eines meiner Kinder ist bereits an Unterernährung und Nierenfehlfunktion gestorben." Krankenschwester Sharifa arbeitet auf der Intensivstation für Kinder. Es gibt nur acht Betten und zu wenig medizinisches Personal. Alle Betten sind belegt, manche davon doppelt. "Ich komme weiter zur Arbeit. Meine Familie unterstützt das. Ohne uns würde nichts funktionieren hier. Das wissen die Taliban."
Die Kinderstation wird von einer holländischen Hilfsorganisation finanziert. Das macht es für die Frauen einfacher. Die neuen Machthaber lassen es zu, dass sie hier arbeiten, denn sonst könnte die Hilfsorganisation abziehen. Das wollen auch die Taliban nicht. Die haben offiziell Krankenschwestern zurück zur Arbeit gerufen. In den Provinzen aber werden die Frauen eingeschüchtert, auch deswegen gibt es für viele Frauen und ihre Kinder kaum noch Gesundheitsversorgung.
Autorin: Sibylle Licht
Stand: 15.11.2021 11:54 Uhr
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