So., 10.07.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Argentinien: Alternativer Gaslieferant?
"Vaca Muerta", die tote Kuh heißt das Projekt in Patagonien. Im Gestein lagert das zweitgrößte Schiefergas-Vorkommen der Welt und es soll gefördert werden. Der Markt wartet darauf, sagen die Investoren. Deutschland und ganz Europa brauchen Gas. Und Argentinien braucht dringend Devisen. Goldgräberstimmung macht sich breit in den umliegenden Dörfern – aber nicht nur: Die Förderung ist auch umstritten, wegen der ökologischen Auswirkungen. Erdbeben nehmen zu, seit zu Beginn des Ukrainekrieges die Fördermengen hochgefahren wurden. Viele Häuser in der Region haben Risse. Bleibt die Frage: Ist argentinisches Gas überhaupt eine Alternative?
Per Fracking Schiefergas für Europa fördern?
Unterwegs durch die patagonische Steppe, rein in die Vaca Muerta. Übersetzt "Tote Kuh", denn so soll das Gebiet von oben betrachtet aussehen. Tief unten im Gestein liegt Argentiniens Schatz. Schiefergas. Viele Trillionen Kubikmeter. Genug, um das Land die nächsten 150 Jahre mit Energie zu versorgen. Oder sie zu exportieren. Wir bekommen eine Führung bei TecPetrol – sie gehörten zu den ersten, die in Vaca Muerta Gas produziert haben. Per Fracking fördern sie jeden Tag rund 20 Millionen Kubikmeter Schiefergas. Es wäre ein Leichtes, die Produktion anzukurbeln und auch Gas nach Europa zu liefern, versichert der Firmenchef anschließend. "Argentinien hat eine lange Tradition in Sachen Gas", erklärt Ricardo Markous. "Die erste Pipeline wurde 1949 gebaut. Um die Gasreserven zu Geld zu machen, müssen wir das Gas zu Verflüssigungsanlagen schicken, um es dann nach Europa zu exportieren und nach Asien und in den Rest der Welt, wo sie Flüssiggas konsumieren."
Geht es wirklich so einfach? Die Wege sind weit. Doch viele hoffen, mit dem Gas Argentiniens kriselnde Wirtschaft in Schwung zu bringen, Devisen ins Land zu holen. Darauf hoffen sie auch im nahegelegenen Örtchen Anelo. Vor fünf Jahren bestand es gerade einmal aus zwei Straßenkreuzungen. Seit hier Gas gefördert wird, kommen Menschen aus ganz Argentinien. Auch Gabriela Centeno. Der kleine Supermarkt an der Hauptstraße läuft gut. Viele der Arbeiter aus den Gas-Anlagen kaufen bei ihr ein. "Ich bin vor eineinhalb Jahren gekommen, um hier zu arbeiten. Um hier mein Glück zu finden. Vorher bin ich hierher gependelt. Dann bin ich hiergeblieben, weil die Löhne besser sind." Inflationsraten um die 60 Prozent, ständig steigende Preise. Vor zwei Monaten kosteten die Gasflaschen 600 Pesos, heute doppelt so viel. Und die meisten hier brauchen sie dringend zum Kochen und Heizen. "Das ist doch absurd! Von hier schicken sie Gas in die ganze Welt, aber wir haben davon nichts. Das muss sich ändern!"
Wer wagt es, in Argentiniens Gas-Wirtschaft zu investieren?
Vor dem Supermarkt treffen wir Matias Sheffield. Auch er kam nach Anelo, um auf einer Gasförder-Anlage zu arbeiten. Er zeigt uns sein selbstgebautes Haus. Jetzt baut er an: Vier kleine Apartments. Er will sie vermieten, denn er geht davon aus, dass das Gas-Geschäft weiter wächst, vielleicht auch mit Exporten nach Europa, irgendwann. "Als ich mit meiner Frau herkam, da kamen wir mit einem kleinen Motorrad und einem Rucksack. Wir hatten uns. Mehr nicht. Und so haben wir uns hier langsam was aufgebaut." Sie sind schon lange hier: Juan und Roberto Schroeder betreiben in der Nähe ein Weingut. Unternehmer. Enkel deutscher Einwanderer. Ein Boom beim Gas würde auch ihrem Geschäft nutzen.
"Das bringt Einnahmen und es zieht Leute an. Es führt manchmal aber auch zu Konkurrenz um die Mitarbeitenden. Die Gasindustrie zahlt zwar besser, aber sie stellen heute ein, und morgen entlassen sie – je nachdem wie der Gaspreis grad international gehandelt wird." Ihre Weine gehen auch nach Europa. Sie hoffen, dass der Ausbau des Gas-Business die Talfahrt des Pesos stoppt. Zu schaffen macht ihnen, dass es einen offiziellen und einen inoffiziellen Wechselkurs gibt. Wer Dollars auf der Straße tauscht, bekommt doppelt so viele Pesos wie in der Bank. Gift, aus Unternehmersicht. "Wir können nur schwer planen. Die verschiedenen Dollarkurse erschweren sowohl den Import (von Teilen) als auch den Export. Und wir können unsere Preise auch nicht andauernd an die Inflation anpassen.
Die Schroeders sind Unternehmer und – wie sie sagen – realistisch. Mit dem Export von Gas nach Europa rechnen sie in frühestens fünf Jahren. So sehen es auch die Experten, die in der Provinzhauptstadt Neuquén zu einem Energie-Gipfel zusammenkommen. Zu viele Fragen seien ungeklärt. Die Wichtigste: Wie soll Gas aus Argentinien nach Europa kommen? Es fehlen Pipelines, Verflüssigungsanlagen, LNG-Terminals an der Atlantik-Küste. Und damit also: riesige Investitionen aus dem Ausland. Geschätzt: fünf Milliarden Dollar. "Wir müssen hart dafür arbeiten, weitermachen", sagt Alejandro Monteiro, Energie-Minister der Provinz Neuquén. "Und die Infrastruktur aufbauen. Und vor allem müssen wir Investitionen anziehen. Denn die Ressourcen sind da. Und wir würden sie gern nach Europa schicken und natürlich auch nach Deutschland." Die Botschaft an Europa: Argentinien steht in den Startlöchern. Bereit, wenn ihr es seid. Wenn sich jemand findet, der es wagt, in den Krisenstaat zu investieren.
Autorin: Joana Jäschke, ARD-Studio Rio de Janeiro
Der Weltspiegel Podcast: "Weg vom russischen Gas: Wer profitiert?" in der ARD-Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt.
Stand: 11.07.2022 10:26 Uhr
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