So., 10.07.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Russland: Jagd auf Flüchtlingshelfer
Sie tun, was sie für menschlich geboten halten und unterstützen ukrainische Flüchtlinge. In der russischen Provinz, 700 Kilometer von Moskau entfernt, werden die Helferinnen und Helfer dafür angefeindet. Zerstochene Reifen, Drohungen und Einschüchterungen - wahrscheinlich mit Rückendeckung der Behörden. Das jedenfalls glaubt Irina, die direkt vor einer Polizeistation von Unbekannten entführt und "verhört" wurde. Die Russin ist untergetaucht, hofft jetzt, aus dem Land zu kommen.
Schmierereien und zerstochene Reifen bei den Flüchtlingshelfern
Pensa, eine Provinzstadt knapp 700 Kilometer östlich von Moskau. Mehrere ukrainische Flüchtlinge sind seit einigen Wochen hier untergebracht. Die Rentnerin Irina unterstützt sie gemeinsam mit einer Gruppe freiwilliger Helfer. Heute will Irina den Geflüchteten neue Kleidung kaufen. Hilfe vom russischen Staat gibt es dagegen kaum. Die Gruppe kommt aus Mariupol und wurde über Fluchtkorridore nach Russland gebracht – jetzt wollen sie das Land so schnell wie möglich wieder verlassen. "Wir haben einen Bus bis nach Iwangorod, also praktisch bis Narwa. Da gehen Sie dann über die Grenze und treffen dann unsere freiwilligen Helfer in Estland."
Irina und ihre Kollegen bleiben mit ihrer selbstorganisierten Flüchtlingshilfe nicht lange unbemerkt. "In diesem Telegram-Kanal hat ein ehemaliger Mitarbeiter des Geheimdienstes eine Mitteilung über uns Freiwillige veröffentlicht. Aber ich glaube, Aufhören ist keine Option. Das wäre die totale Selbstaufgabe." Auf "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis. An den Häusern der freiwilligen Helfer haben Unbekannte erste Warnungen verfasst. "Hier wohnen Handlanger der Ukro-Nazis". Auch das Haus von Anwalt Igor ist angemalt. "Sie haben uns allen die Türen beschmiert", beklagt sich Igor. 'Unterstützer der Ukro-Nazis'. Bei einem lokalen Journalisten war es genauso. Er hat das heute früh im Netz gepostet. Und da dachte ich, ich schau mir mal meine Tür an – genau dasselbe. Dann habe ich Irina geschrieben: Irina, schau dir mal deine Tür an – genau dasselbe. So ist es. Für mich stellt sich die Frage: Hören wir jetzt auf damit oder machen wir weiter?"
Die freiwillige Arbeit wird mit jedem Tag gefährlicher – schon heute bleibt es nicht bei Schmierereien. Jemand hat die Reifen von Igors Auto zerstochen. Für den Anwalt besteht kein Zweifel, wer dahintersteckt. "Aufgeschnitten, mit einem Messer. Dabei gibt es hier einen Wächter und Videokameras. Der Staat bekommt sowieso alles mit." Trotzdem bringen sie am nächsten Tag erneut ukrainische Flüchtlinge, die hier in einem Auffanglager untergebracht sind, in Richtung EU-Grenze. Helferin Irina ist heute überraschenderweise nicht erschienen. Von Pensa aus sollen die Ukrainer mit dem Zug bis Sankt Petersburg und von dort mit dem Bus zur estnischen Grenze fahren. Die Gruppe freiwilliger Helfer bleibt in Pensa. Doch diese Hilfeleistung soll zunächst ihre letzte Aktion gewesen sein.
Wer in Russland ukrainischen Flüchtlingen hilft lebt gefährlich
Moskau, einige Tage später. Irina hat hier Unterschlupf in einer geheimen Wohnung gefunden. Ihr freiwilliges Engagement hat sie beendet. "Ich bin neben der Polizeiwache um die Ecke gegangen und habe dort ein Auto gesehen, aus dem zwei Männer rausgingen. Sie hatten Skimasken auf und ich konnte nur noch sagen: 'Was machen Sie da?' und dann haben sie mir eine Mütze übergezogen und mich ins Auto gezogen. Sie haben mich irgendwo aus dem Auto gezerrt mit dem Gesicht nach unten. Sie haben geschrien und gefragt: 'Wer finanziert dich? Für wen arbeitest du?' Ich habe dann gesagt, dass ich Freiwillige sei und Flüchtlingen aus Mariupol helfe. Wir erhalten Spenden von russischen Bürgern, die diesen Menschen auch irgendwie helfen wollen. Daraufhin haben sie geschrien und gesagt: 'Keiner von euch bringt je wieder einen Menschen über die Grenze! Sonst begraben wir dich hier lebendig.'"
Irina wurde vorher für sie unerwartet zu einem Verhör auf die Polizeiwache vorgeladen. Unmittelbar danach wurde sie gekidnappt, erzählt sie. Seitdem lebt sie in dieser Wohnung in Moskau. Sie hat Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Die Erfolgsaussichten tendieren gegen null. "Ich war mir sicher, dass ich nicht mehr lebend zurückkomme. Und meine Familie nie wieder sehe. Definitiv." Irina möchte nach Deutschland fliehen. Allerdings nur gemeinsam mit ihren beiden Töchtern, die ebenfalls in Gefahr sind. "Es gibt anscheinend ein paar wundervolle Menschen, die uns helfen wollen. Lasst uns hoffen, dass dieser Schrecken sich nicht wiederholt." Jetzt müssen sie nur noch auf die Papiere warten. Wenn die deutsche Bürokratie mitmacht, können die drei Frauen in wenigen Wochen ein neues Leben in Deutschland beginnen.
Stand: 11.07.2022 09:20 Uhr
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