Mo., 04.09.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Putins Griff nach der Arktis
Mit Spezialbohrern treiben sie mehr als 20.000 Edelstahlrohre 24 Meter tief in den Permafrost. Dann füllen sie sie mit Zement, denn am Ende soll auf diesen Stelzen auf der russischen Halbinsel Jamal mitten in der Arktis eine riesige Gasverflüssigungsanlage stehen. 30.000 Bauarbeiter sind rund um die Uhr im Einsatz. Es ist Mai 2016, und es muss alles schnell gehen, bevor es wieder zu kalt wird.
Bauarbeiten in der arktischen Tundra
Projektleiter Dmitri Fomin versucht, die Arbeiten so schnell wie möglich voranzutreiben. Er hat viel Erfahrung, aber dieses Projekt ist auch für ihn ein Abenteuer. "Wo Sie jetzt stehen, war 2011 nichts als arktische Tundra", erzählt er. "Solche Bauten gibt es bisher nur wenige in Russland und auf der ganzen Welt. Eine Herausforderung in einer solchen Region." Auch in den riesigen Gasbehältern wird zügig gearbeitet. Bis Ende 2017 soll hier Flüssiggas fließen, 16,5 Millionen Tonnen pro Jahr. Das Projekt verschlingt riesige Summen an privaten und staatlichen Geldern. Es ist Teil eines ehrgeizigen nationalen Programms für die Erschließung der Arktis. "Ich kenne niemanden, der es gewagt hätte, in diesen Breitengeraden so ein Objekt zu bauen", sagt Dmitri Fomin. "Es ist schon kompliziert, so eine Anlage unter normalen Naturbedingungen zu bauen. Aber in dieser Gegend – das ist hoch kompliziert."
China unterstützt das Projekt
Über zehn Milliarden Euro an Krediten geben die Chinesen dazu – ohne sie wäre das Projekt nicht realisierbar gewesen. Auch dieses riesige Modul stammt aus China. Schließlich soll ein Großteil des Gases nach China fließen. Die zunehmende Erwärmung lässt Russland von der Nutzung eines gigantischen Gebiets in der Arktis träumen. 1,2 Millionen Quadratkilometer fordern die Russen für sich. Mit enormen Bodenschätzen.
Militärbasis in der Polarregion
Mit Hilfe einer riesigen Militärbasis und anderen, die folgen werden, will man künftig die Ressourcen in der Polarregion verteidigen – wenn nötig, mit Gewalt. Im Fernsehen werden erstmals Bilder von den neuen Brigaden und deren Militärübungen in der Arktis ausgestrahlt. Eine Demonstration der Macht. Russische Soldaten sind in der Lage, das begehrte Territorium zu schützen. Und bei der diesjährigen Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau am 9. Mai tritt erstmals ganz offensiv das arktische Battaillon in Erscheinung. Interessiert lässt sich Präsident Putin gemeinsam mit Premierminister Medwedew vor laufenden Kameras den Fortschritt einer großangelegten Säuberungsaktion in der Arktis vorführen. Tausende Tonnen Müll aus der Sowjetzeit müssen entfernt werden. Die Region sei von besonderer strategischer Bedeutung, so der Präsident. Massenwirksam macht das Duo so die Aufbruchstimmung und den Führungsanspruch Russlands in der Arktis deutlich.
Erinnerung an historische Arktis-Expedition
Für den Politologen Timur Makhmutow steht fest, je mehr das Eis schmilzt, umso größer das Interesse an der Arktis. "Solche komplexen Projekte wie in der Arktis werden zur nationalen Idee", sagt er. "Natürlich nicht so stark wie die großen Bauten zu Sowjetzeiten, aber man kann eindeutig sagen, dass die Realisierung solcher Projekte in der Arktis zur Entwicklung Russlands beitragen." Stolz erinnern russische Wissenschaftler in diesen Tagen im Fernsehen an die historische Arktis-Expedition vor zehn Jahren. Eigentlich sollte diese Expedition nur Informationen sammeln. Mit ihnen will Russland seine territorialen Gebietsansprüche bei der UN-Arktis-Kommission untermauern, die die offiziellen Grenzverläufe entscheiden wird. Doch stattdessen pflanzten die Wissenschaftler kurzerhand mit Hilfe eines U-Boots in 4260 Metern Tiefe eine russische Fahne aus Titan in den Meeresboden. Auch wenn das keinen juristisch bindenden Charakter hat, wollen sie so Russlands Anspruch auf Teile des Meeres demonstrieren.
"Gute Basis für die weitere Entwicklung"
Die vier gigantischen Gasbehälter auf der Halbinsel Jamal sind mittlerweile fast fertiggestellt. Jeder Speicher wird etwa 160.000 Kubikmeter fassen. Um das Gas zu transportieren, wurde der Hafen von Sabetta ausgebaut. Erstmals transportierte nun ein russischer Tanker, die "Christophe de Margerie", ohne Eisbrecher-Eskorte, in nur 19 Tagen Erdgas über die Nordostpassage nach Südkorea. Dieser Seeweg ist fast 10.000 km kürzer als durch den Suezkanal. Die "Christophe de Margerie" wurde eigens dafür gebaut und gilt als das größte eisbrechende Schiff der Welt. Mit seinem speziellen Bug kann es sich den Weg durch 1,2 Meter dickes Eis brechen. "Ich denke, wir haben eine gute Basis geschaffen für die weitere Entwicklung der Arktis", sagt Projektleiter Dmitri Fomin. "Nicht nur für Russland, aber generell. Wir experimentieren hier, wie Pioniere." Ein Stück weit ist Zusammenarbeit in der arktischen Weite überlebensnotwendig. Kein Staat allein könnte hier beispielsweise mit der Bewältigung einer Umweltkatastrophe klar kommen.
Arktis zur Chefsache erklärt
Stück für Stück entsteht rund um den Hafen von Sabetta eine ganze Siedlung. So wie die Eismassen nun Handelsrouten und Rohstoffvorkommen freigeben, ist die Welt des ewigen Eises längst nicht mehr vom Weltgeschehen und seinen Konflikten abgeschnitten. Zu groß sind die Begehrlichkeiten. Nachdem Russland die Arktis jahrzehntelang vernachlässigt hat, erklärt Putin sie nun zur Chefsache. Und der Kreml lässt keinen Zweifel daran, dass er die wirtschaftliche Erschließung mit einem militärischen Aufmarsch begleiten wird.
Autorin: Birgit Virnich
Stand: 20.07.2019 16:50 Uhr
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