So., 17.10.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Balkan: Ein junges Orchester gegen alte Konflikte
Sie sind alle Kriegskinder, geboren während der so genannten "Jugoslawienkriege", jetzt treffen sie sich, um Musik zu machen. In Pristina (Kosovo) kommen sie erstmals zusammen: 25 junge talentierte Musikerinnen und Musiker, ganz bewusst aus all jenen Ethnien und Staaten des Balkans, die vor 30 Jahren brutal gegeneinander gekämpft hatten. Eine Woche lang probt das "Western Balkans Youth Orchestra". Dann geben sie Konzerte.
Gemeinsam in den verschiedenen Regionen, gegen Widerstände. Allein die Anreise der Musiker nach Pristina zeigt, dass viele Konflikte noch immer nicht gelöst sind. So müssen zum Beispiel einige MusikerInnen aus Bosnien und Herzegowina (BiH) kompliziert über Nordmazedonien reisen, um dort ein Visum für den Kosovo zu beantragen – denn offiziell erkennen sich Kosovo und BiH noch immer nicht an.
Die kriegerische Vergangenheit hinter sich lassen
Busbahnhof Belgrad. Noch sind sie erst sieben. Doch schon in acht Tagen wollen sie als großes Orchester auftreten. Bobana und Senka sind dafür aus Bosnien-Herzegowina angereist. Die anderen kennen sie noch nicht. "Ich freu mich drauf, neue Leute kennenzulernen, mit ihnen was zu erleben, auf neuen Wegen Musik zu machen und etwas zu lernen", sagt Senka Vejzović. Und Bobana Tešić meint: "Wir kommen alle aus verschiedenen Ländern dieser Region. Jetzt spielen wir bald gemeinsam, das wird brillant."
Ankunft des Tour-Busses und des Orchesterchefs: Sedar Sulejmani. Zwei Tage lang hat der gebürtige Albaner bereits die anderen Musiker auf dem Westbalkan eingesammelt. Heute also Serbien. "Great to meet you in person." Am Abend wollen sie in Pristina die anderen treffen. Noch wissen sie nicht, dass sie das heute nicht mehr schaffen werden. Von Belgrad in Serbien nach Pristina im Kosovo. Zwei Länder und noch immer ein schwieriges Verhältnis. Über 20 Jahre sind vergangen seit Ende der Jugoslawienkriege. Die Musikerinnen und Musiker im Bus waren damals noch zu klein, um sich zu erinnern. Nicht alle reden gerne über das Thema. "Krieg hat doch nichts zu tun mit den Menschen, das ist nur Politik, sagt Senka Vejzović. "Das seht ihr an jungen Generationen wie uns. Wir diskutieren das nicht, wir wissen, dass schlimme Sachen passiert sind. Das ist endlos, wir müssen darüber hinwegkommen, es hinter uns lassen."
Spannungen an den Grenzen
Kurze Zeit später. Zwei Reifen sind geplatzt. Desar muss jetzt umplanen. Schließlich warten in Pristina bereits die anderen Musiker des Orchesters. "Das ist jetzt kein Weltuntergang" sagt Desar Sulejmani, Projektleiter des "Western Balkans Youth Orchestra". Wir kriegen das hin. Und wir nehmen das mit Humor, die jungen Leute nehmen das auch mit Humor." Und das "Get together"? "Morgen 9.30 Uhr." Nach zwei Stunden ist das Problem gelöst. Hier bringt das keinen aus der Ruhe, das passiert immer mal wieder, sagen die Musiker. Die nächste Hürde: Die Grenze von Serbien nach Kosovo. Und wieder Warten. Die Behörden des Kosovo wollen die Reisepässe der serbischen Musiker nicht anerkennen. Die Spannung an der Grenze habe zugenommen, sagt Desar. "Wenn wir von den drei Serbischen Mitspielern keine ID Karten gehabt hätten, also Ausweise, dann wären sie nicht reingekommen, weil der Staat Kosovo den serbischen Pass nicht anerkennt. Das ist so im Rahmen der gegenseitigen Aberkennung.“
Kompliziert. Spät in der Nacht kommen sie an. Der erste Tag des Orchesters endet ohne einen Ton Musik. Der nächsten Morgen. Kennenlernen in der Hotellobby. "We have Andre Jarkasev from Montenegro." 30 junge Menschen verschiedener Länder und Ethnien. Viel Zeit für Smalltalk bleibt nicht. Gleich beginnen die Proben. Noch eine Woche bis zum ersten Konzert. "Der ganze Raum ist voller Freude!", sagt Ivan Milosevic. "Ich mein, ich kenne zwar noch keinen, aber ich glaube ich habe schon die anderen Bratscher entdeckt. Ich freu mich schon darauf, mit ihnen über die Noten zu diskutieren und die Bogenführung."
Zeigen, dass es nur zusammen geht
Die erste gemeinsame Probe am Abend. Den ganzen Tag haben sie in kleinen Gruppen geübt. Jetzt aber bekomme das Orchester eine Seele, sagt Desar und beginnt. "Nein, Nein! Nochmal alle zusammen! Es ist ein Tanz!" Capriol-Suite von Peter Warlock. Mit diesem Stück wollen sie ihr erstes Konzert eröffnen. "Bis jetzt war das alles ja nur eine Idee!", meint Bobana Tešić. "Bis zu dem Moment, als unsere gemeinsame Musik erklang. Das war super, ich bin noch ganz aufgeregt. Aber mir ist auch klar geworden, dass wir noch viel arbeiten müssen."
Eine Woche Proben in Pristina. Zeit zum sich kennenzulernen und die Hauptstadt des Kosovo. Die regionalen Konflikte um Herkunft und Grenzen sind hier noch immer ein Thema, das ist nicht zu übersehen. Mit ihrem Orchester wollen sie zeigen, dass es nur miteinander geht, sagen Senka und Ivan. Ihr erster Beweis nach ein paar Tagen: Selfies von gemeinsamen Hotelzimmer-Partys. "Bei uns allen hat es irgendwie Klick gemacht", erzählt Senka Vejzović. "Wir lachen gemeinsam, wir chatten, lernen uns kennen, wir spielen Spiele. Nicht mal die verschiedenen Sprachen sind dabei eine Hürde."
Premiere in Skopje, Nordmazedonien. Eineinhalb Stunden entfernt von Pristina. Hier in der Philharmonie werden sie zum ersten Mal öffentlich auftreten. Finanziert und unterstützt von vielen Spendern, auch aus Deutschland. Blick ins Publikum: 150 Menschen sind gekommen. Ein Grund: die Corona-Auflagen, sagen die Musiker Und natürlich sei ihr Orchester einfach noch zu unbekannt. "Klar wäre das toll, wenn der Saal voll wäre!", sagt Dea Nicaj aus Montenegro. "Aber wir tun es ja auch für uns. Wir spielen ab sofort gemeinsam – auch ohne große Öffentlichkeit." Und dann geht’s los. Libertango von Astor Piazzolla. Solist hier in Nordmazedonien: ein albanischer Geiger aus dem Nachbarland Kosovo. Noch ist das außergewöhnlich, doch wenn es nach den Musikern geht, eigentlich längst überfällig.
Autor: Christian Limpert, ARD-Studio Wien
Stand: 18.10.2021 12:33 Uhr
Kommentare