So., 17.10.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libyen: Gaddafis Erbe
Am 20. Oktober 2011 stellten Milizen Muammar al Gaddafi auf der Flucht und töteten ihn. Er hatte seine Macht über Libyen verloren, die er über 42 Jahre ausgeübt hatte. Zehn Jahre danach sind die Umstände seines Todes immer noch nicht 100prozentig aufgeklärt, auch wo sein Vermögen geblieben ist, bleibt rätselhaft. Seine Familie drängt zurück an die Macht in Libyen. Wir sprechen mit Zeitzeugen, Gaddafis Cousin, Regierungsvertretern.
Gaddafi: "König von Afrika" und Tyrann
Die letzten Stunden eines exzentrischen Despoten. Muammar Gaddafi in den Fängern seiner Feinde. Geschlagen und gedemütigt von Kämpfern einer Miliz. In seiner Geburtsstadt Sirte endet auch seine schillernde Karriere. Ein Granatsplitter am linken Ohr wurde ihm zum Verhängnis. So jedenfalls erzählt es Anwar Suwan. Der Geschäftsmann versorgte die Milizen in Misrata seinerzeit mit Waffen und Geld. Einer der Kämpfer verständigte ihn sofort nach Gaddafis Ergreifung. "Als sie ihn erwischten, hatte Gaddafi Angst, zitterte, eine Pistole in seiner Hand. Sie forderten ihn auf, sie wegzuwerfen. Das hat er gemacht. Dann fragte er ängstlich: Was stimmt denn nicht, meine Söhne?”
Er liebt bizarre Auftritte, erklärt sich zum König von Afrika. Mit den Milliarden aus dem Ölgeschäft finanziert Gaddafi Terror und Milizen in der ganzen Welt. Von westlichen Regierungschefs wird er hofiert, schließt lukrative Öl-Verträge, hält für Europa Flüchtlinge zurück. Im eigenen Land herrscht er mit eiserner Hand, will sich mit sozialen Wohltaten die Gunst der Libyer erkaufen. Mit Beginn des arabischen Frühlings aber entgleitet dem selbst ernannten Oberst die Kontrolle. Demonstranten bezeichnet er als Kakerlaken, schickt die Armee, lässt auf sie schießen. Dann aber greift die Nato ein. Den Kampfjets können Gaddafis Einheiten auf Dauer nichts entgegensetzen.
Das zu unterschätzen, war sein Verhängnis, meint sein Cousin. Amad Gaddaf al Dam floh mit Beginn der Aufstände nach Kairo. Über Jahrzehnte war er ein enger Vertrauter, sein Sondergesandter für heikle Aufgaben. Er traf Staatsmänner aus der ganzen Welt. Bis heute verehrt ihn der 68jährige als Helden. "Wir haben es für einen Fehler gehalten, eine Konfrontation mit der Nato einzugehen. Er hielt es für ruhmreich. Das Ergebnis war vorhersehbar. Das Kräfteverhältnis war ungleich."
Suche nach den 200 Milliarden Dollar von Gaddafi
Lange Schlangen, um einen letzten Blick auf den Despoten zu erhaschen. Seine Leiche wird öffentlich zur Schau gestellt. Im Haus von Anwar Suwan. "Ein Rechtsmediziner entnahm Proben seines Haares, von Knochen und Zähnen", erzählt Anwar Suwan. "Eine vollständige Probe an einem sicheren Ort. Dann wurde er in einen Kühlschrank für Gemüse auf dem Marktplatz verfrachtet." Jubel nach dem unrühmlichen Ende des Diktators. Nun beginnt die Jagd nach den Milliarden Muammar Gaddafis. Libyens neue Regierung beauftragt Mohammed Ali Abdallah mit der Suche. Um bis zu 200 Milliarden soll es gehen, geparkt in einem undurchschaubaren Geflecht von Strohmännern und Firmen in der ganzen Welt, wie er uns erzählt. "Entweder wollte er das Geld verbergen oder es illegal verwenden, etwa um seine Terroraktivitäten zu finanzieren", so Mohammed Ali Abdallah, ehemaliger Kommissionschef für Finanzplanung. "Er und seine Regierung wollten damit offiziell nicht in Verbindung gebracht werden."
Eine Spur führt nach Südafrika. Gaddafi soll noch kurz vor seiner Flucht aus Tripolis reichlich Bargeld und Goldbarren zu seinem Freund Jakob Zuma ausgeflogen haben. Medienberichten zufolge habe der damalige Staatspräsident die Milliarden in einem Bunker seines Heimatdorfs versteckt. Später soll er sie nach Swasiland verfrachtet haben. Hier verliert sich dann die Spur. Bis heute sind Gaddafis Schätze nicht wieder aufgetaucht. "Wir haben definitiv Beweise, dass 2011 Geld nach Südafrika geflossen ist", sagt Mohammed Ali Abdallah. "Das konnten wir nachvollziehen. Der Generalstaatsanwalt Südafrikas hat das bestätigt."
Gaddafis Sohn als neuer Präsident?
Nach der Gaddafi-Ära allerdings versinkt Libyen im Chaos. Rivalisierende Milizen bekriegen sich. Ausländische Mächte mischen mit. Die Infrastruktur verfällt. Die Wirtschaft bricht ein. Die Küste wird ein Eldorado für Schlepper und Schleuser. Tausende Migranten fliehen nach Europa. Wohl auch deshalb sehnen sich nicht wenige zurück nach den alten Zeiten unter dem schillernden Despoten. "Es ist nach all der Zerstörung in Libyen doch wohl klar, dass Gaddafi Recht hatte", meint Cousin Ahmad Gaddaf al Dam. "Die Situation im Land ist miserabel. Millionen Menschen hatten früher ein gutes Leben in Libyen. Jetzt müssen sie betteln. Libyen führte den Kontinent damals, jetzt ist es Schutt und Asche." Anwar Suwan kommt zum gegenteiligen Schluss. Die Revolution sei ein Erfolg gewesen. "Gaddafi hat riesige Summen libyschen Geldes für seine privaten Anliegen verschwendet. Dafür, Menschen umzubringen, mit denen er im Clinch lag."
Gaddafis Sohn Seif Islam gilt nun als Hoffnungsträger für ein neues, altes Libyen. Von einem Gericht in Tripolis wurde er wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember will der 49jährige wohl dennoch antreten. "Er hat jedes Recht bei den Wahlen anzutreten", sagt Ahmad Gaddaf al Dam. "Bislang hat er es noch nicht bekannt gegeben. Aber die Libyer verlangen es.” Zehn Jahre nach dem Tod des Langzeitherrschers wäre es die skurrile Wende einer unglaublichen Geschichte.
Autor: Daniel Hechler, ARD-Studio Kairo
Stand: 18.10.2021 12:26 Uhr
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