So., 17.10.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Russland/Jakutien: Ende des Permafrosts
"Das Haus sinkt ständig ab. Wir haben es deshalb auf Reifen gestellt," Paraskowia Makarowa ist stolz, dass sie diese Idee hatte. Vier riesige Traktor-Reifen, an jeder Ecke des Holzhauses einer. So bewahrt die Familie es vor dem Einsinken. Zumindest vorläufig. Denn die Erde taut immer weiter auf. In Jakutien hat sich die durchschnittliche Temperatur schon um 3 Grad Celsius im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten erwärmt. Den Klimawandel muss niemand den Menschen hier beweisen, sie erleben die Auswirkungen jeden Tag.
Der Permafrost taut, der Boden sackt ab
Das Trinkwasser von Iwan Nogowizin lagert hier unter der Erde. Eisblöcke, im Frühjahr herausgesägt aus einem zugefrorenen See – denn normales Grundwasser gibt es im Permafrostboden nicht. Heute ist es hier unter null Grad, der Keller dicht – doch das ist längst nicht mehr selbstverständlich. "Im vergangenen Jahr ist hier Wasser reingelaufen", erzählt Iwan Nogowizin. "Es hat so heftig geregnet, dass es hier getropft hat, sowas gab es früher nicht." Der Eiskeller – eine Art natürlicher Kühlschrank, gekühlt vom Permafrost. Doch der hat angefangen, zu schmelzen.
Der Boden in Iwans Dorf Usun-Kujöl hat sich in den letzten Jahren völlig verändert. Wenn der Permafrost taut, sackt der Boden ab. Krater, Spalten entstehen. Stehende Pfützen aus Schmelzwasser verstärken den Effekt. Am Anfang trauten die Bewohner ihren Augen nicht. "Noch zur Zeit der Sowjetunion war das hier alles flach. Eine Ebene", sagt Iwan. "Diese Entwicklung macht einem Angst. Die Kinder laufen doch hier entlang zur Schule."
Die Temperatur ist im Schnitt um drei Grad gestiegen
In Usun-Kujöl ist sichtbar, wie stark Jakutien vom Klimawandel betroffen ist. Die Jahresdurchschnittstemperatur ist um etwa drei Grad gestiegen. Die Hälfte solcher Siedlungen steht auf Permafrost, sagen Wissenschaftler. Iwan zeigt uns, wo er vor ein paar Jahren noch gewohnt hat. "Das war mein Haus. Im Jahr 2000 habe ich es gebaut. Sechs, oder sieben Jahre habe ich da gelebt, und das war’s." Das Haus ist dann in sich zusammengesackt. Jetzt steht nur noch der Schuppen mit dem Eiskeller. Seestraße 30 – wegen des Klimawandels nun unbewohnt. Das Grundstück nichts mehr wert.
Seine ehemaligen Nachbarn wollen trotzdem bleiben. Die kämpfen noch. Das Ehepaar hat das absackende Haus auf dem Grundstück einfach um zehn Meter versetzt – und sich etwas Kreatives ausgedacht. "Das Haus sinkt ständig ab", erzählt Paraskowia Makarowa. "Wir haben es deshalb auf Reifen gestellt." Ihr Ehemann erklärt, warum. Der Druck des Hauses verteile sich bei den runden Traktorreifen besser als bei einer schmalen Wand, wie er mit dem Eimer und dem Stock verdeutlichen will. "Es ist jedes Jahr dasselbe: Erst hält der Permafrost noch stand, dann gibt es kurz vor Dezember starke Bewegungen." "Wir nutzen jedes Jahr Kuhmist, um es auszugleichen", sagt Paraskowia Makarowa. Haben Sie keine Angst um ihr Haus? "Natürlich haben wir Angst." Gerade erst ist im Dorf ein Hangstück abgerutscht. Was wie Gestein glänzt, ist der jetzt freiliegende Permafrost. Stück für Stück schmilzt er und rinnt als Matsch in den See. Der Abrutsch bedroht die Fernwärmeleitung und die Straße.
Risse an den Häusern
Vier Autostunden entfernt: Die Großstadt Jakutsk – die weltweit größte Stadt auf Permafrost. Häuser stehen hier auf Stelzen, mehr als zehn Meter tief im Permafrostboden. Doch jetzt entstehen Risse, erklärt der Permafrost-Forscher Semjon Gotowzew. "Sie stehen, weil der Permafrost sie zusammenhält. Als der Klimawandel begann, haben die Häuser angefangen, sich zu deformieren, die Stelzen fingen an, einzusinken."
Trotzdem baut Jakutsk weiter mehrstöckige Wohnhäuser – angeblich mit deutlich leichteren Materialien. Auf den Sandbänken des Flusses Lena stehe Jakutsk vergleichsweise stabil, sagt der Wissenschaftler – ganz im Gegensatz zu den Dörfern wie Usun-Kyöl. "Die Menschen dort bitten beim Ortsvorsteher um neue Grundstücke. Aber es gibt keine. Dann haben sie mich gefragt: Gibt es in der Nähe Plätze ohne Permafrost? Und ich sage Nein."
Iwan glaubt dennoch an eine Zukunft für das Dorf seiner Vorfahren. Deswegen bleibt er in Usun-Kujöl, er lebt jetzt im Dorfzentrum. "Kommt rein!" Iwan hat das alte Haus abgebaut und mit einem Traktor hierhergefahren. "Zwei Meter ist die Erde hier dick, erst danach kommt das Eis. Damit man sich keine Sorgen machen muss." "Und wenn es weiter schmilzt?" "Das schmilzt nicht." Die Wissenschaft jedoch ist für Usun-Kujöl nicht so optimistisch wie Iwan. Sie erwartet, dass die tauenden Permafrostböden hier in Jakutien nachhaltig die Landschaft verändern.
Autor: Demian von Osten, ARD-Studio Moskau
Stand: 18.10.2021 12:30 Uhr
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