So., 26.04.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Belgien: Obdachlos und nicht vergessen
Romi hat schon zum zweiten Mal im Hotel übernachtet. Hotelchefin Tina Wijns schaut nach dem Rechten, plaudert, versprüht gute Laune. Im Frühstücksraum sitzen alle auf Corona-Abstand – schön weit auseinander. Sie sollen sich wohl fühlen, wie im normalen Betrieb. Nur eins ist anders: Die Gäste sind obdachlos.
3-Sterne-Hotel für Obdachlose
"Wir müssen alle drinnen bleiben und diese Menschen leben auf der Straße – die können doch gar nirgends rein. Das ist doch ein Widerspruch. Für diese Menschen müssen wir doch eine Lösung finden", Tina Wijns, Hotelmanagerin t´Putje. Das t´Putje mitten in der Altstadt hat als einziges Hotel in Brügge nicht geschlossen. Tina Wijns bewirtet in ihrem familiären 3-Sterne-Haus normalerweise Geschäftsreisende oder Besucher auf Wochenendtrips. Weil die in Corona-Zeiten nicht kommen, ist es jetzt eben eine Art Obdachlosen-Unterkunft. Die Rechnung zahlt die Stadtverwaltung.
Romi muss nach dem Frühstück an der Spülmaschine selbst mit anpacken. Das reguläre Hotel-Personal ist wegen der Corona-Krise freigestellt.
"Hier gibt es einen Fernseher! In der Notunterkunft gibt es nur ein Bett und einen Tisch. Hier kann man sogar ein heißes Bad nehmen. Echt überwältigend! Es gibt sicher nicht viele Menschen, die so etwas für uns möglich machen", Romi, 20 Jahre alt, obdachlos.
Aus Dankbarkeit unterstützen alle mit
Im t´Putje sind jetzt 25 der 37 Zimmer mit den ungewohnten Gästen belegt – und aus Dankbarkeit packen alle mit an. "Ich habe das auch meinen Kollegen gesagt: Wir müssen den Schalter umlegen – wir kommen aus der Hotellerie und sind jetzt Sozialarbeiter. Das ist für die Gäste der Himmel auf Erden, ein Luxus, den sie nicht kennen. Sie sind unglaublich dankbar, sie helfen mir, sie putzen die Tische, waschen ab", Tina Wijns.
Patrick lebt seit zehn Monaten auf der Straße. Dank der Krise kann er jetzt mal wieder heiß duschen und in Ruhe frühstücken. "Ich muss normalerweise in der Notunterkunft schlafen, weil ich einen kleinen Hund habe. Und den darf ich hier nicht mitbringen. Ok, das verstehe ich! Wenn ich hier schlafen darf, passt jemand anderes auf ihn auf. Und ich finde das eine super tolle Initiative, dass wir hier versorgt werden", Patrick, 61, seit 10 Monaten obdachlos.
Corona-Regeln sind für Obdachlose fast nicht einhaltbar
Nach dem Frühstück müssen sie wieder los. Raus auf die Straße, das ist die Regel. Die belgischen Corona-Regeln sind für Obdachlose fast nicht einhaltbar: Im öffentlichen Raum einfach mal so auf einer Bank oder Treppe sitzen ist gerade verboten. Die meisten zieht es deshalb zur städtischen Obdachlosenhilfe ein paar Straßen weiter. Hier gibt es einen Garten, in dem sie sich zurückziehen können, ohne von der Polizei verscheucht zu werden: "Die Bibliothek, der Stadtpark, die öffentlichen Plätze – alles, wo sie sonst Zeit verbringen ist jetzt geschlossen. Immer müssen sie ein Plätzchen suchen, wo sie bleiben können. Das ist extrem schwer, weil die Straße keine Option mehr ist".
Die Hilfsorganisation berät die Bedürftigen, kleidet sie frisch ein – aber die Zahl der Schlafplätze wurde wegen der neuen Abstandsregeln halbiert. Patrick und sein Hund Pupje müssen den Tag draußen verbringen – was sich viele Menschen bei der Ausgangssperre gerade sehnlichst wünschen – durch das wunderschöne Brügge zu spazieren – für die Obdachlosen eine Belastung.
"Jeden Tag muss ich jetzt laufen, laufen, laufen. Manchmal setze ich mich zum Ausruhen vorsichtig auf eine Bank, dann muss ich aufpassen, dass die Polizei mich nicht erwischt", erzählt Patrick.
Weiterhin Hotelzimmer für Bedürftige
Etwa 150 Obdachlose leben in Brügge, ausgegrenzt von der Gesellschaft und doch mittendrin. In Zeiten der Ausgangsbeschränkungen ist die Stadt leer und still. Im Hotel t´Putje gibt es zum Abendessen heute Schnitzel mit Erbsen-Möhrengemüse und Kartoffelpüree. Restaurants und Bäckereien unterstützen Tina Wijns und spenden die Mahlzeiten. Von der Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität ist sie ebenso begeistert, wie von ihren Gästen.
"Als die Obdachlosen nach der ersten Nacht herunter gekommen sind, waren es andere Menschen. Die Blicke, ihre Gesichter, die Dankbarkeit, diese Glück, ich kann das nicht beschreiben. So viel bekommt man von den Touristen nie zurück", so Tina Wijns.
Und deshalb will sie auch weiterhin für Bedürftige ihre Hotelzimmer öffnen.
Autorin: Gudrun Engel/ARD Studio Brüssel
Stand: 27.04.2020 13:41 Uhr
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