So., 26.04.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
USA: Nächstenliebe und Waffenkäufe
Amerika kämpft. Gegen das Virus, gegen die Massenarbeitslosigkeit, gegeneinander. Ein Mediziner stellt sich einem Demonstranten entgegen, der das Ende der Ausgangsbeschränkungen fordert. "Krisen bringen das Beste und das Schlechteste im Menschen hervor", lautet ein altes Sprichwort.
Zusätzlicher Schutz in der Corona-Krise
Wer in Los Angeles dieses Geschäft betritt, fürchtet, wozu die Krise die Menschen treiben könnte. Michelle ist zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Waffenladen. Aber dafür schlägt sie gleich richtig zu. Michelle entscheidet sich für eine Shotgun, die zum Schießen auf kurze Distanzen ausgelegt ist. Die Corona-Krise lasse ihr keine andere Wahl, erklärt sie.
"Ich habe noch einen Job, also mir geht es okay. Aber ich denke an die Zukunft. Es sieht so aus als könnten viele Leute ihr Einkommen verlieren. Oder es könnten die Supermärkte geschlossen werden. Die Menschen könnten verzweifeln", sagt Michelle, neue Kundin im Waffenladen.
Verzweiflung könne schnell zu Plünderungen und Überfällen führen, befürchtet Michelle. Davor will sie sich zusätzlich mit einer handlichen Pistole schützen. Kaliber neun Millimeter.
"Ich habe Freunde, die schon Waffen besitzen. Ich war immer eher unbesorgt. Aber jetzt bin ich ein bisschen älter und kann nicht mehr gegen jemanden kämpfen. Also brauche ich Schutz zu Hause", so Michelle.
Die Polizei rückt vielerorts nur in Notfällen aus
Auch Scott fühlt sich nicht mehr sicher. Denn die Polizei rückt wegen der Corona-Ansteckungsgefahr vielerorts nur noch in Notfällen aus. "Die Reaktionszeit der Polizei wird immer langsamer werden. Je mehr kranke Leute, desto weniger Polizeipräsenz. Falls etwas passiert, will ich abgesichert sein", sagt Scott. Die Nachfrage ist so groß, dass selbst die Ausstellungsstücke fast ausverkauft sind. Das ist nicht nur hier in Los Angeles so, sondern in vielen Teilen des Landes, wie die Zahlen des FBI zeigen: Bevor man eine Waffe kaufen darf, muss man sich in vielen US-Bundesstaaten einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Das FBI registrierte allein im März 3,7 Millionen dieser so genannten Background Checks – ein Rekord. Ladenbesitzer Bill hat so etwas noch nicht erlebt.
"Die Zwischenhändler sind Wochen im Rückstand. Dinge, die wir schon vor Wochen bestellt haben, wurden immer noch nicht geliefert. Viele Anbieter haben gar keine Ware mehr. Sie müssen einfach mehr produzieren", Bill, Inhaber eines Waffenladens.
Bedürftige mit Essen versorgen
Mehr produzieren müssen auch Patricia und ihre Familie. In ihrer heimischen Garage in Baltimore schmieren sie Sandwiches für Obdachlose. Durch die Corona-Krise werden es täglich mehr. Mehr als 26 Millionen Amerikaner haben allein in den vergangenen fünf Wochen ihren Job verloren. "Diese Zahlen steigen auf irrwitzige Weise. Als wir mit unserem Hilfsprojekt begannen, sahen wir Obdachlose vor allem bei der Drogenberatungsstelle. Aber jetzt sehen wir sie überall. Nicht nur einzelne Obdachlose, sondern ganze Familien. Sogar Studenten, die im selben Alter sind wie meine Kinder. Das zu sehen, geht wirklich ans Herz", sagt Patricia, freiwillige Helferin.
Patricias Sohn Santi ist 16, seine Schwester Camila 19 Jahre alt. Die beiden können wegen des Corona-Virus derzeit nicht zur Schule gehen. Dass sie in dieser Zeit etwas Sinnvolles tun und mit anpacken, ist für ihre Mutter von großer Bedeutung. Fast noch wichtiger als gute Schulnoten ist ihr die Herzensbildung.
"Das Einzige, was ich als Mutter tun kann, ist doch, ihnen beizubringen, etwas Gutes in der Welt zu bewirken. Ich hoffe, dass sie, wenn sie mal groß sind, dasselbe mit ihren eigenen Kindern tun werden", erzählt Patricia.
Abwägung von Leben gegen Arbeit
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern ihrer katholischen Kirchengemeinde verteilen sie die Essenspakete. Neben den alten Bekannten nehmen auch heute wieder viele neue Gesichter die Hilfe in Anspruch. Shawn war lange drogenabhängig, hatte gerade einen Job als Fahrer gefunden. Dann kam Corona. Shawn wurde nicht mehr gebraucht und gefeuert.
"Seit sechs Monaten hatte ich ein festes Einkommen. Und seit dreieinhalb Jahren bin ich clean. Ich habe gerade meine erste eigene Wohnung und meine erste echte Freundin. Alles schien gut zu laufen und dann das. Ich betrachte es als Test Gottes. Oder einfach als etwas, durch das ich durch muss", sagt Shawn, arbeitslos durch Corona.
Sie wollen sich nicht einfach fügen und gehen bewaffnet gegen die Ausgangsbeschränkungen auf die Straße. Viele Demonstranten hier in Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania haben Angst, auch ihren Job zu verlieren. Die Diskussionen mit Protestgegnern werden hitzig.
"Ich will nicht, dass Menschen sterben. Es ist die Abwägung Leben gegen Arbeit. Oder Geld gegen Leben. Ich will Deine Sichtweise hören."
"Geld und Jobs sind das, womit wir alle unsere Familien ernähren. Meine Frau und ich sind seit 10 Jahren selbstständig. Und das Geschäft bricht weg, während wir hier sprechen."
Gemeinsamer Wunsch nach Rückkehr ins normale Leben
Ähnliche Bilder aus vielen Teilen Amerikas. Hier in Alabama demonstrieren nur einige Dutzend. Im Bundesstaat Washington sogar einige Tausend. Widerstand auch in Florida, angeheizt durch Präsident Trump. Der hatte wörtlich die "Befreiung" einiger Staaten gefordert – und dazu aufgerufen, das Recht auf Waffenbesitz zu bewahren. Organisiert werden die Proteste meist im Internet, teilweise von bekannten Waffenlobbyisten. Der Präsident hat für die Demonstranten viel Lob übrig.
Donald Trump: "Das sind tolle Leute. Sie haben einen Lagerkoller. Sie wollen ihr Leben zurück."
Den Wunsch nach Rückkehr ins normale Leben haben alle Amerikaner gemeinsam. Doch während sie darauf warten, könnte die Krise wohl tatsächlich das Beste und das Schlechteste in ihnen hervorbringen.
Autor: Jan Philipp Burgard /ARD Studio Washington
Stand: 27.04.2020 13:37 Uhr
Kommentare