So., 30.06.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
ÄGYPTEN: Gewalt zu Mursis Jahrestag
Doch diese meiden aus Angst vor Ausschreitungen das Land, das seither immer mehr verarmt. 50.000 Straßenkinder leben in Kairo, die Arbeitslosigkeit steigt sprunghaft an.
Mohammed wohnt weit außerhalb, aber er kommt gerne hierher. Der Pharmazeut hat viele Freunde in dem Viertel. In einem kleinen Teehaus an der Ecke treffen sie sich regelmäßig, und dann reden sie über Alltagsfragen; aber immer auch über den Koran, die Scharia und die politische Lage im Lande. Mohammed und seine Freunde sind tief religiös. Als Muslimbrüder haben sie die gleiche konservative Einstellung wie ihr Idol, der islamistische Präsident Mohammed Mursi, der am Sonntag ein Jahr im Amt sein wird.
Kurz zuvor hatte der Präsident im Fernsehen eine lange, zweieinhalbstündige Rede gehalten. Mehrfach hatte er dabei die Errungenschaften seines ersten Amtsjahreshervorgehoben, außen- wie innenpolitisch. Und dann hatte das Staatsoberhaupt versucht, die erhitzten Gemüter in beiden Lagern zu beruhigen.
Mit seiner Harmonie-Rede hat Mursi keinen Erfolg gehabt. Nach dem Freitagsgebet am nächsten Tag beginnen gewalttätige Auseinandersetzungen überall im Lande. Allein in Alexandria sterben drei Menschen, Hunderte werden verletzt. Bilder, wie man sie aus der ägyptischen Revolution kannte, vor zweieinhalb Jahren.
Die Lage in Ägypten scheint schon am Freitag zu eskalieren, die Armee ist aus ihren Kasernen ausgerückt und beginnt, strategisch wichtige Punkte im Lande zu sichern.
In der Hauptstadt hat sich die liberale Opposition beim Verteidigungsministerium versammelt, wie um Schutz zu suchen beim Militär. Zwei Tage noch bis zum Jahrestag der Amtsübernahme Mursis.
"Mohammed Mursi hat in seiner Rede die Revolutionäre als Verräter beschimpft. Jetzt fordern wir, ihn zu beseitigen, als Hochverräter." Mursi-Gegnerin
Erfahrungen wie diese sind es, die vor allem die einfachen Leute wütend macht: Kilometerlange Schlangen vor den wenigen Tankstellen in Kairo, die noch Benzin verkaufen. Stunden- oder gar tagelanges Warten hat die Menschen aggressiv gemacht. Stromausfälle, Arbeitslosigkeit, dramatisch steigende Lebensmittelpreise. Und nun auch noch fehlender Treibstoff.
Auch die Anhänger Mursis haben sich versammelt: auf dem Vorplatz einer – wie sollte es auch anders sein – wichtigen und großen Moschee im Stadtteil Nasr City. Auch der 28-jährige Apotheker Mohammed ist gekommen, um Position zu beziehen - für seinen Präsidenten. Der sei demokratisch gewählt, und habe Anspruch auf weitere drei Jahre im Amt.
So demonstriert das religiöse Lager den ganzen Tag bis weit in die Nacht. Sie sehen sich als Speerspitze der Revolution, nicht die Liberalen, die einen gottlosen Staat wollen, und das können die Muslimbrüder nicht akzeptieren.
Auch Mohammed, ein sehr intelligenter und überlegter Mensch, ist blind auf einem Auge; dass es noch immer kein Parlament gibt: Schwamm drüber. Und für die wirtschaftliche Misere – so denkt er – ist nicht der Präsident verantwortlich, sondern eine Verschwörung gegen Ägypten. Die Sündenböcke stehen fest für ihn:
Samstag: Einige Aktivisten auf beiden Seiten haben begonnen, sich zu bewaffnen. Auch bei den Muslimbrüdern ist nicht jeder so friedfertig wie Apotheker Mohammed. Die Stimmung wird aggressiver, denn zur Stunde hat ihr politischer Gegner eine publikumswirksame Aktion gegen Mursi gestartet. Wochenlang hatte die Bewegung Tamarod – Rebellion - Unterschriften gesammelt, um von Mursi einen Rücktritt und Neuwahlen zu erzwingen. "Und hierkommt die Zahl", sagt der Aktivist, "es sind 22 Millionen Unterschriften."
Die Opposition will eine zweite Revolution. Die Muslimbrüder aber, die Salafisten und die Mitglieder der radikalen Gamaa Islameya wollen sie um jeden Preis verhindern. Gemeinsam beten sie am heutigen Nachmittag. Nicht zuletzt, um ihren Präsidenten im Amt zu halten. Ohne ihn, so glauben sie, stürze Ägypten in die Gottlosigkeit.
Alle Zeichen stehen auf Konfrontation. Die heutige Nacht wird blutig werden, meinen die meisten Menschen, die wir in den vergangenen Tagen getroffen haben. Mohammed, der privat gerne dichtet und singt, er wird auch dabei sein. Und wenn es gewalttätig wird, dann ist er bereit, sein Blut zu vergießen, am wichtigsten Tag Ägyptens seit langer Zeit.
Autor: Thomas Aders, ARD Kairo
Stand: 15.04.2014 11:08 Uhr
Kommentare