So., 02.07.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
London: Die verschlossene Welt der ultraorthodoxen Juden
Man kann viele Jahre in London leben, ohne jemals den Weg nach Stamford Hill zu finden. Eine vollkommen in sich abgeschlossene Welt im Nordosten Londons, die größte ultra-orthodoxe jüdische Gemeinde Europas mit mehr als 20.000 Menschen. Mit der Außenwelt aber will hier niemand etwas zu tun haben. Man lebt weiter nach strengen jahrhundertealten Regeln, Abstand ist das oberste Gebot, auch zum anderen Geschlecht.
Frauen verbringen ihre Zeit so meist hinter verschlossenen Türen, bis ihre Eltern einen Mann für sie suchen. Emily ertrug das irgendwann nicht mehr, sie brach aus und spricht heute auch darüber: „Ich war 20, als meine Eltern einen Heiratsvermittler engagierten, meine Eltern haben meinen zukünftigen Mann interviewt und dann auch für mich ausgesucht, das war schon da seltsam.“ Sie selbst lernte ihren Mann erst kurz vor der Hochzeit kennen. "Ihr Frauen könnt das selbst bestimmen, bei uns machen das andere."
Emily brauchte Jahre, um sich aus ihrer alten Welt zu befreien, ihr gesamtes Umfeld stellte sich gegen sie, aber sie blieb dabei. Die Erinnerungen an ihr damaliges Leben aber verfolgen sie bis heute, obwohl sie heute am anderen Ende Londons wohnt.
Aber sie brach nicht zusammen, sie kämpfte um ihre drei Kinder - ganz auf sich allein gestellt gegen teure Anwälte der Gemeinde. Und gewann, nach langem Hin und Her, konnte sie ihre Kinder behalten. Sie war Lehrerin damals hier, durfte aber nur die Themen unterrichten, die die Rabbis ihr erlaubten. Auch etwas, wo gegen alles in ihr rebellierte, vor allem die Tatsache, dass viele der Kinder noch nicht einmal richtig Englisch lernen durften.
Eine Gemeinschaft – aber verschlossen und isoliert
Jungen trifft das besonders hart, da sie fast nur die Torah studieren sollen, wie Izzy, der aber schon als Kind von etwas ganz anderem träumte, nämlich davon, Physik zu studieren. Auch er musste Stamford Hill verlassen, um sich diesen Traum zu erfüllen. Denn nicht nur moderne Naturwissenschaften, auch das Internet ist grundsätzlich tabu in der Gemeinde: "Für sie ist das eine existentielle Bedrohung, und deshalb installieren die Rabbis Internet-Filter, die sie bei dir zu Hause einstellen, und dann können sie aus der Ferne deinen Bildschirm überwachen, damit sie nachverfolgen können, was du anschaust. Und wenn du diese Filter nicht einbaust, können deine Kinder aus der Schule ausgeschlossen werden."
So entschlossen Izzy war, gehen zu wollen, den Bruch mit seinen ehemaligen jüdisch-ultraorthodoxen Freunden hatte er sich so hart nicht vorgestellt. Alles war fremd plötzlich, und so stürzte er in eine tiefe Depression, aus der er nur ganz allmählich wieder herauskam.
Um hier zu helfen, und weil es auch immer häufiger vorkommt, dass Ultra-Orthodoxe aussteigen wollen, hat Emily vor einiger Zeit eine Hilfsorganisation gegründet, und berät hier vor allem junge Frauen wie Esti, die diesen Schritt vor ein paar Monaten gegangen ist, sich aber noch immer unsicher fühlt in der neuen Welt. Bei ihr kam der Bruch, als sie nach dem dritten kein weiteres Kind mehr wollte, aber keine Verhütungsmittel bekam, denn die händigen nur die Rabbis aus.
Emily hört oft nur zu, auch am Telefon, ihrer Hotline.
Izzy vermisst seine Familie auch heute noch, nach vielen Jahren. Er versteht aber auch, warum sie, anders als er, bleiben wollen. Die Einsamkeit des Aussteigers ist für viele in seiner alten Gemeinde ein zu hoher Preis.
Autorin: Annette Dittert, ARD London
Stand: 02.07.2023 20:03 Uhr
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