So., 07.06.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
New York: Aufbruch der chassidischen Frauen
Wir sind mitten in New York und trotzdem irre weit weg. Im Stadtteil Brooklyn leben viele streng orthodoxe Juden, etwa 300.000. Nur in Israel sind es mehr.
Perl ist in dieser Welt aufgewachsen. Ihr Rock reicht zwar über das Knie, ist aber eigentlich etwas zu eng und damit grenzwertig. Perl bewegt sich ständig entlang der Grenze von Gesetzen, Regeln und Traditionen. Sie ist Kosmetikerin und besucht ihre Freundin Feigy in deren Wohnung. Gleich beginnt der Shabbat. Perl schminkt Feigy gründlich, es muss für zwei Tage halten. Schminken am Shabbat geht nicht. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass beide Perücken tragen.
Weltliches wird abgewiesen
Perl Wolf begründet das so: "Ich bin ja nicht mehr verheiratet. Ich kenne auch andere, die geschieden sind, die ihr Haar nicht mehr bedecken. Ich kann die Perücke nicht ausziehen. Ich würde mich dann nackt fühlen." Perl kauft noch Blumen für den Shabbat. Frauen sollen sich im öffentlichen Raum unauffällig bewegen. Perl macht aber gerade das Gegenteil. Sie wird von einem Fernsehteam gedreht. Schon gibt’s Ärger, von einem Passanten.
Ein älterer Mann sagt ihr: "Es gibt für alles eine Regel. Das hier ist nicht angemessen." Perl Wolf entgegnet: "Ich habe mich bei vielen Rabbis erkundigt, sagt Perl. Sie drehen mich, weil ich Musik für Frauen mache. Ich bin eine Sängerin für Frauen. Alle sagten, das sei in Ordnung." Der ältere Mann: "Hast aber nicht gesagt, dass es auf der Straße ist?" Perl Wolf: "Na klar!" Der ältere Mann:
"Ich denke, es ist unangemessen. Es passt nicht zum jüdischen Gesetz. Es ist weltlich. Mehr sage ich nicht."
Klares Rollenbild
Weltlich, säkular ist hier fast ein Schimpfwort. Wie soll eine streng orthodoxe Frau sein? Hier bei der Onlinezeitung Jewish Political Updates treffen wir Jacov Kornbluh, der offen genug ist, um mit uns zu sprechen – keine Selbstverständlichkeit. "Jede Familie hat hier im Schnitt sechs, sieben Kinder", sagt Jacov. Er hat nur vier. Man heiratet mit 19, maximal 20. Mit der Ausbildung für Frauen wird es da eng.
Eine Rockband als Revolution
Und was hier so harmlos aussieht, ist in Wirklichkeit eine kleine Revolution. Perl und ihre Freundin Dalia haben die erste chassidische, die erste streng orthodoxe Frauenrockbank gegründet. Normalerweise singen nur orthodoxe Männer öffentlich. Frauen dürfen nicht für Männer singen. Sie sollen auch nicht auf der Bühne stehen. Also eine kleine Revolution, weil sie hier ein Album aufnehmen und damit öffentlich singen und dann auch noch Rockmusik! Nicht alle in ihrer Gemeinde finden das koscher, angemessen.
Perl Wolfe erklärt den Konflikt: "Manche haben einfach Angst vor Musik. Ist ja eine sehr säkulare Sache Sie mögen vielleicht Rockmusik. Und Rockmusik wird mit so einer Szene in Verbindung gebracht, die ja nun nicht gerade so ist wie die chassidische Gemeinde, nicht dieselben Vibrations."
Sie nennen sich Bulletproof Stocking – Schusssichere Kniestrümpfe. Ihre Texte haben religiöse Inhalte. Und ihre Musik ist frech, manchmal forsch. Chassidische Frauen wie sie werden stärker, sie begehren behutsam auf, leise, aber nicht zu überhören.
Anstrengende und starke Frauenleben
Ein kleines Morgengebet. Dalia reinigt ihrem jüngsten Sohn die Hände vom Schlaf; religiöse Regeln wie diese bestimmen Rhythmus und Leben von Dalia. Die Schlagzeugerin ist Mutter von vier kleinen Jungen. Vor vier Jahren verstarb ihr Mann. Seitdem macht Dalia alles alleine und das beeindruckend entspannt. Andere Frauen aus der Gemeinde helfen ihr und bewundern sie, weil sie unabhängig wirkt. Dalia Shusterman erklärt die Bedeutung der Band:
Ein Auftritt in einer orthodoxen Gemeinde in Manhattan: Etwa 40 sind gekommen. Männer dürfen hier nicht zuhören. Da steht aber einer: "Ich werde nicht mogeln. Ich lasse nur die späten Gäste rein. Und dann steh ich hier als Security."
Eine Frau beschreibt ihre Rolle: "Als orthodoxe jüdische Frau versuchst du ständig bescheiden und anständig zu sein. So lebst du das Leben. Wenn du also in Situationen bist, wo das schwer ist, denkst du: 'Oh, was mach ich nur?' Aber hier ist es schön, es sind alles Frauen. Es ist eine Art von Freiheit."
Das sieht aus wie eine leere Volkshochschulveranstaltung, ist aber eigentlich eine Sensation. Die Frauen im Publikum sind erst zurückhaltend. Einige haben noch nie irgendwo öffentlich getanzt. Und dann wagen es tatsächlich manche. Sie tanzen, öffentlich. Und es gehört Mut dazu.
Autorin: Isabel Schayani, ARD New York
Stand: 08.06.2015 21:04 Uhr
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