So., 27.07.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ukraine: Lähmende Angst und Kriegslärm im Osten
Rauchsäulen. Und das dumpfe Geräusch von Artilleriesalven. Wer kann, hat die Stadt verlassen. Donezk ist in der Hand der "Stahlharten Russen“, wie sich die Separatisten-Kämpfer und ihr Kommandant nennen.
"Hilfst Du an der Front?" Sowjet-Plakate rufen zum Kriegsdienst auf. Die Front rückt näher an die Vororte der Millionenmetropole.
Sergej Vladimirovitsch Serikov wandert durch die Trümmer seines Hauses. Eine halbe Stunde vor dem Einschlag hatten sie bei Verwandten Unterschlupf gesucht, erzählt mir der Frührentner. In der Nacht halfen die Nachbarn das Feuer zu löschen. "Es gibt keine Feuerwehr mehr.“ sagt Sergej: "Einige haben Brunnen und kamen mit Wassereimern. Es dauerte Stunden.“
Sergej Vladimirovitsch Serikov:
Die Nachbarn zeigen uns die Splitter des Geschosses. Streit bricht aus. Einige denken, wir seien vom russischen Fernsehen:
Dann merken sie, dass wir Deutsche sind und bitten uns, ihre Gesichter unkenntlich zu machen. Ihre Wut könnte sie in Gefahr bringen:
"Du alte Hure!“ wird die Frau beschimpft. "Ach, geh doch nach Hause!“ schreit sie zurück.
Auch Natalia Ovcharenko und ihr Mann sind am Ende mit den Nerven. 25 Jahre hat er im Bergwerk gearbeitet:
Natalia Ovcharenko:
Niemand weiß, warum eine Rakete diese Bushaltestelle getroffen hat. Wie durch ein Wunder gab es kein Opfer. Der kleine Kiosk mittendrin verkauft immer noch Brot, das dutzende Kilometer und Straßensperren passiert hat, um hier anzukommen.
"Es gibt keine Arbeit, kein Gehalt.“ sagt der Kiosk-Besitzer. "Alles ist geschlossen. Jetzt einen Job zu bekommen, ist aussichtslos. Irgendwie machen wir weiter.“
"Wir sind für die Ukraine, wir wollen in der Ukraine leben.“ wirft seine Frau noch ein. Ihr Mann schweigt.
Viele ältere Menschen wollen oder können die Stadt nicht verlassen.
Eine Frau:
"Innerlich bereiten wir uns auf den Häuserkampf vor.“ hören wir hier.
Der Zug, der Richtung Krim fährt, ist voll. Die, die fliehen, fühlen sich alleingelassen. Was wird aus den Eltern, die bleiben müssen? Warum hilft uns die Regierung in Kiew nicht? Wie lange wird das alles noch dauern?
Eine Frau:
Eine andere Frau:
Natalya Vasilyeva fühlt sich genauso: Ratlos. Hilflos. Ausgeliefert. Die Bürgermeisterin von Petropavlovka blickt auf die von den Einwohnern fein säuberlich aufgesammelten Überreste des Fluges MH 17.
Natalya Vasilyeva:
"Warum holt niemand diese Briefe ab?“, fragt sich Natalya. "Und diese Koffer? Wieso redet niemand mit uns?“
Natalya Vasilyeva:
"Bei mir heulen sich jetzt alle aus“, sagt Natalia. "Entweder werde ich stärker aus dem Ganzen werden oder ich zerbreche.“
Jeder hat seine Geschichte und seine Version über das, was geschah. Den meisten fehlen die Worte.
Nach und nach finden sich immer mehr Bruchstücke, wie ein nicht enden wollender Albtraum, der die Einwohner von Petropavlovka heimsucht.
Ein Mann:
Es gibt ein Leben vor dem Absturz und ein Leben nach dem Absturz, erklären die Einwohner. Es gibt ein Leben vor dem Krieg und ein Leben im Krieg.
Die Front ist heute Abend so weit herangerückt an die Dörfer rund um die Absturzstelle, dass sich die Menschen bald wieder in ihren Kellern verstecken.
Autorin: Golineh Atai / ARD Moskau
Stand: 28.07.2014 00:46 Uhr
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