So., 02.08.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Die Apotheke im Dschungel
Man muss fünf Stunden flussabwärts fahren, um die Zivilisation zu verlassen und das Gebiet der Indigenen vom Stamm der Sateré Mawé zu erreichen.
Heilmittel aus dem Urwald
Aus Rinde stellen die Ureinwohner Medizin her. Vor allem während der Pandemie, in der sie sich allein gelassen fühlen. "Offenbar entscheiden die Behörden, wem sie helfen. Uns lassen sie im Stich. Wir müssen allein mit dem Virus fertig werden, allein dagegen kämpfen", erzählt André Sateré Mawé, Häuptling der Sateré Mawé. Als die Ersten Fieber bekamen, begannen sie mit der Herstellung ihrer Dschungel-Medizin. Rinde und auch Ingwer sollen helfen, das Immunsystem zu stärken. Einige hier stehen der westlichen Medizin skeptisch gegenüber und vertrauen eher althergebrachten Tinkturen.
"Mein Opa Marcos ist 93 Jahre alt und kennt sich mit Urwald-Medizin aus. In der Viruskrise habe ich ihn um Rat gefragt, denn ich vertraue den Pillen der Weißen nicht", so Rosivane Da Silva, Stamm Sateré Mawé.
Blätter gegen Leberleiden
Dona Teka ist eine der wenigen weiblichen Schamaninnen im Amazonas. Und eine der ältesten. Jeden Morgen ruft sie die Geister des Dschungels, bevor sie Heilmittel im Urwald sucht. Dona Teka kennt diejenigen Lianen, deren Flüssigkeit gegen Übelkeit hilft. "Der Dschungel ist wie eine Apotheke. Deshalb mag ich keine Holzfäller und auch Kinder sollen keine Äste abreißen", so Dona Teka, Heilerin der Kambeba.
Dona Teka ist seit 30 Jahren Heilerin ihres Stammes Kambeba. Auch wenn der nicht mehr isoliert im Dschungel lebt, pflegt sie weiter die Tradition des Kräutergartens.
"Diese Blätter dienen als Mittel gegen Leberleiden bei Männern. Frauen hilft es bei Entzündungen der Gebärmutter oder der Eierstöcke. Dazu bekämpft es Blutarmut und sogar Hepatitis", sagt Dona Teka.
In ihrer Hütte bereitet Dona Teka ihre Medizin zu. Auch bei ihr sind es vor allem Blätter und Rinde, die erst zerkleinert und danach 20 Minuten lang aufgekocht werden müssen. Der Sud, der daraus entsteht, wirkt als Vorsorge ihres Stammes gegen jede Art der Grippe und soll sogar gegen Krebs helfen, behauptet Dona Teka.
"Wenn jemand Blutungen hat und man ihm im Krankenhaus sagt, dass es sich um Krebs handelt, den man nicht heilen könne, dann kommen diese Patienten oft zu mir. Ich mache dann für ein paar Euro eine Flasche mit einem Saft, in dem viele verschiedene Kräuter stecken. So können manche Arten von Krebs verschwinden oder zumindest zurück gehen", erklärt Dona Teka.
Die Nachfrage ist hoch
Schon vor der Corona-Krise erlebte Brasilien einen Boom der traditionellen Heilkunst mit Heilmitteln aus den Tiefen des Amazonas-Regenwaldes. Dieser Trend ist auch in den Städten sichtbar. Die Märkte: Voll von indigenen Heilpräparaten. Für eine Bevölkerung, die das immer öfter nachfragt. Für den Heiler Justino ist diese Entwicklung ein Segen. Er praktiziert in den Armenvierteln von Manaus. Hausbesuch – vor der Corona-Krise – bei seinem ältesten Patienten. Der 73-jährige Geronimo kann kaum noch atmen. Justino lädt die Zweige spirituell auf. Damit reinigt er Geronimo. Das und der Rauch sind dessen letzte Hoffnung.
"Wir haben viel Geld für Pillen ausgegeben – ohne Erfolg. Dann trafen wir Heiler Justino und seitdem geht es Geronimo besser", erzählt Josefina Nogueira.
"Diese Art Leiden lindern weder westliche Ärzte noch chemische Pillen. Nur ein spiritueller Heiler", so Justino Melchior, Schamane.
Indigene Heilmedizin als letzte Hoffnung
Der Boom der Indigenen-Heiltradition hat sogar öffentliche Krankenhäuser erreicht. Der einbeinige Cesar da Silva nimmt neben der westlichen Medizin auch die Hilfe eines staatlich geprüften Schamanen an. Dieser zündet sich erstmal eine Zigarette an, denn der Rauch vertreibe böse Geister. Dann lädt er das Wasser spirituell auf. Das soll Cesars chronische Schmerzen lindern.
"Ich fühle mich schon besser. Der Schmerz saß hier hinten. Jetzt tut es weniger weh", so Cesar da Silva. Heilmethoden, die seit wenigen Jahren auch die staatliche Gesundheitsbehörde für Indigene fördert.
"Die Ureinwohner Amazoniens haben für eine Aufwertung ihrer traditionellen Medizin gekämpft. Jahrelang. Also haben wir begonnen, die uralten Traditionen staatlich zu fördern", sagt Mario Rui Lacerdo, Gesundheitsbehörde Sesai.
All das rückt während der Pandemie erstmal in den Hintergrund. Der Staat – allen voran Brasiliens Militär – kann derzeit nur einen kleinen Teil der Ureinwohner versorgen. Mit Masken, Desinfektionsmittel und Hygieneartikeln. Einige wenige Stämme werden auf das Virus getestet. Doch der Staat erreicht längst nicht alle. Es wird dauern, bis klar ist, wieviele Ureinwohner dem Corona-Virus zum Opfer fallen.
Autor: Matthias Ebert/ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 03.08.2020 07:52 Uhr
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