Sa., 10.10.20 | 16:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Die Viren-Jäger
Sie suchen im Dschungel nach neuen Viren, die das Potential haben auf Menschen überzuspringen und neue Pandemien auszulösen. Die Forscher der Universität São Paulo beschäftigen sich mit sogenannten Zoonosen, sie kommen immer öfter vor, weil der Mensch immer näher an den Urwald heranrückt.
Fledermäuse tragen unzählige Viren in sich
Im Hinterland von São Paulo: Zuckerrohr soweit das Auge reicht. In den wenigen verbliebenen Streifen atlantischen Regenwalds forscht der Biologe Cristiano Carvalho. Gerade auf der Suche nach Verstecken von Fledermäusen. In diesen Wasserröhren glaubt er, fündig zu werden. Von drinnen waren Flügelgeräusche zu hören… Tatsächlich: Eine Fledermaus-Kolonie. Es sind dutzende, die hier in Ritzen und Spalten hausen. "Ich bin spezialisiert darauf, in Gebieten wie diesem – umgeben von Agrarflächen – nach den Zufluchtsorten der Fledermäuse zu suchen. Meist finde ich sie in Bäumen oder – wie hier – in Wasserröhren."
Mit einem Schutzanzug kann die Jagd beginnen. Erstaunlich schnell geht das erste Flattertier, so ihre biologische Gattung, ins Netz. Mühsam muss Cristiano das Tier aus dem Netz pulen. Für ihn längst Routine nach 26 Jahren als Fledermausjäger. Die gefangenen Exemplare übergibt er an Virologin Angelica Campos, die diese fein säuberlich in Stoffbeuteln aufhängt. "Erst seit diesem Jahr nehmen die Menschen weltweit wahr, dass Fledermäuse unzählige Viren in sich tragen. Und dass diese auf Menschen überspringen können und so Pandemien auslösen."
Deshalb schauen die Forscher seit Ausbruch der Pandemie noch öfter und genauer hin, welche Viren in jedem einzelnen Tier stecken. Das geht nicht ohne dicke Handschuhe. Denn die Fledermäuse haben keine Beißhemmung. Angelica entnimmt Proben aus dem Rachen und dem Verdauungstrakt. Dort wo die Corona-Viren siedeln. "Wir haben seit Jahren damit gerechnet, dass es eine Corona-Pandemie geben würde. Und gehofft, dass wir uns täuschen würden."
Eine weitere Pandemie verhindern
Auch nach neuartigen – potentiell gefährlichen – Erregern suchen sie im Kot der Fledermäuse. "Wir wollen mit unserer Arbeit verhindern, dass eine weitere Pandemie ausbricht", erklärt Cristiano Carvalho. "Wir suchen nach neuen, gefährlichen Virustypen oder versuchen, diese zumindest einzugrenzen." Dafür müssen die Proben – auf dem Weg ins Labor – bei minus 40 Grad zwischengelagert werden, um den Code der Viren zu erhalten.
"Die Fledermäuse kann man sich wie einen Viren-Speicher vorstellen", sagt Angelica Campos. "Diese Erreger bleiben eigentlich fern von uns Menschen. Pandemien entstehen immer dann, wenn der Mensch in das natürliche Gebiet der Fledermäuse vordringt und das Gleichgewicht der Natur, in dem die Viren existieren, durcheinanderbringt." Was sie damit meinen, zeigen uns die Forscher auf dem Weg mit der Kühltruhe in ihr Labor nach São Paulo. Wegen der Zuckerrohr-Monokultur habe sich hier – zum Beispiel – das Hanta-Virus rasch verbreitet. Es wird übertragen durch den Kot von Ratten. Die massive Abholzung der Urwälder vergrößert die Gefahr einer neuen Pandemie. Denn dadurch erhöht sich das Risiko, dass unbekannte Viren, die im Regenwald schlummern, auf unsere Zivilisation überspringen.
Problem: das Vorrücken der Zivilisation
Brasiliens Ureinwohner protestieren immer wieder für den Erhalt ihres Lebensraums und gegen das kontinuierliche Vordringen der Agrarindustrie. Doch das Gegenteil passiert unter Präsident Bolsonaro. Auf Rekordbrände folgt die Ausweitung der Ackerflächen. Die Zivilisation rückt vor. Die Virologen auf dem Uni-Campus von São Paulo sehen das mit Sorge. Und sprechen von einer tickenden Zeitbombe. "Nach jedem Brand grasen mehr Tiere an den Grenzen des Regenwalds", sagt der Virologe Gustavo Góes. "Dort können die Viren erst auf die Rinder überspringen, und sich an diesen neuen Wirt anpassen. Später dann springen sie womöglich auch auf uns Menschen über. Das besorgt mich sehr."
Ihre Analyse des Fledermauskots und der Innereien ergibt dieses Mal keinen Treffer. Weder das neue Corona-Virus noch andere gefährliche Erreger können sie aufspüren. Für Fledermaus-Jäger Cristiano heißt das: Weitermachen. Weitersuchen. Auch wenn das in Brasilien derzeit frustrierend sein kann. "Es enttäuscht mich, dass unsere Regierung kaum auf die Wissenschaft hört. Immer wieder geht sie auf Konfrontation mit Forschern. Uns bleibt nur übrig, zu kämpfen und an unseren wissenschaftlichen Zielen festzuhalten." Auch wenn es einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleicht. Doch es lohne sich, sagt Cristiano.
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 18.09.2020 12:58 Uhr
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