So., 30.04.23 | 18:30 Uhr
Brasilien: Tür an Tür mit dem Gangster
Wir ziehen ein in die größte Favela von Rio de Janeiro. Die Rocinha zieht sich am Bergrücken entlang, verwinkelte Gassen, kleine Häuschen. Viele verbinden das Leben in der Favela mit Armut und Gewalt, hier hat eine Drogengang das Sagen. Und trotzdem treffen wir hoffnungsvolle Menschen. Was bekommen wir mit von Gewalt, Drogen und Kriminalität? Und wie beeinflusst das das den Alltag der Menschen?
Ein Experiment: ein paar Tage in der Favela leben
Für mich wird das ein Experiment. Seit fünf Jahren bin ich Korrespondent in Rio. In den Armenvierteln habe ich schon oft gedreht. Aber diesmal ziehe ich ein, in Rios größter Favela Rocinha. "Ja mal schauen, wie es hier ist hier zu leben – auch wenn es nur für ein paar Tage ist." Geschätzt 200.000 Menschen leben hier. Jeder fünfte Einwohner Rios wohnt in einer Favela. Oft Tür an Tür mit Drogengangs. Was spürt man davon im Alltag? Im Gewusel fällt mir ein Mann auf. Er und seine Jungs scheinen hier ordentlich was wegzuschleppen. Adauto heißt er. Und ich platze mitten in sein Outdoor-Büro: "Das hier bezeichne ich als mein Büro, wo ich auf Arbeit warte. Hier an der Rua Um, neben dem Blumenladen. Hier kriege ich Transport-Aufträge, die ich drinnen, in den engen Gassen der Favela, erledigen muss."
Wir wollen Adauto begleiten. Aber wir können hier nicht allein mit der Kamera unterwegs sein. Wir brauchen Kontaktleute, die uns bei jedem Schritt folgen. Sie haben das OK der Drogengang eingeholt, die hier das Sagen hat. "Jetzt gehts in die heißen Straßen, dahin wo die Drogen verkauft werden; da müssen wir auf Regeln achten. Kamera runter. Sonst drehen die vielleicht durch und verlieren die Nerven." Wir passieren den Checkpoint der Drogen-Gang "Rotes Kommando". Im Vorbeigehen sehe ich: Schwer bewaffnete Typen. Ein Tisch mit kleinen Tütchen – darin weißes Pulver: Kokain.
Die Wohlhabenden feiern in der Favela
Für mich fühlt sich das beklemmend an. Für Adauto ist es der tägliche Arbeitsweg. Und dann plötzlich dieser Ausblick. "Gefällt es Dir hier? Oder denkst Du manchmal: hier gibt’s ja viele Waffen – das könnte schlecht sein für mich und meine Familie?" "Ich sag Dir, was ich denke: Die Gangs leben ihr Leben und wir leben unseres", sagt Adauto. "Verstehst Du? Solange ich mein Ding mach, geradeaus, komme ich denen nicht in die Quere."
So einfach ist das? Ich würde gern mit Gangstern sprechen. Und frage mich: Wie ist das mit der Sicherheit nachts? Unser Kontaktmann Marcelo und seine Frau nehmen mich mit ins Nachtleben. Inzwischen, erzählen sie, kommen selbst Leute aus Rios wohlhabenden Vierteln zum Feiern in die Rocinha. "Wie ist das für Dich als Frau hier, fühlst Du dich sicher?" "Ja, es gibt viel gefährlichere Orte", meint Adriana. "Wo?" "Im Stadtzentrum". "Von Rio?" "Ja von Rio. Wenn ich nachts am Copacabana-Strand bin, fühle ich mich nicht sicher." "Warum?” "Dort gibt es viel Diebe. Hier bin ich sicher. Hier werde ich nicht ausgeraubt, vergewaltigt oder angegriffen." "Ah ich dachte es wäre andersrum!" Party – fast bis es hell wird.
Gewalt und Zusammenhalt – beides gehört zur Favela
"Viel ruhiger als ich dachte. Grad jetzt. Absolut gut zum Schlafen." Wir haben einen Anruf bekommen: Wir können ein Mitglied einer Drogengang treffen. In einer anderen Favela. Unterwegs in Rios Norden. Wohin genau dürfen wir nicht sagen – das würde uns und unsere Kontaktleute in Gefahr bringen. Wir sollen ihn Carlos nennen. Seit sieben Jahren ist er "Wachmann", bei der Drogengang. Es sei der einzige Weg Geld zu machen, für sich und seine Familie sorgen, sagt er. "Wenn Leute sagen, 'Du bist ein Krimineller': Fühlst Du Dich wie einer?" "Wir sind keine Verbrecher. Nein. Verbrecher. Aber für die Leute in meiner Nachbarschaft bin ich ein Held. Weil wir ihre Sicherheit garantieren. Hier in der Favela gibt es keinen Diebstahl. Wenn Du aber an die berühmten Strände von Rio gehst, siehst du überall Diebe. Hier drinnen klauen nur die Verrückten." "Hast Du schon mal jemanden getötet?" "Nein. Das machen andere." Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm das glaube. Ich frage mich: Wer hilft den Menschen, nicht abzurutschen?
Der Staat scheint in den Armenvierteln weit weg. Eine Antwort finde ich hier: Adauto hat mich in den Gottesdienst eingeladen. Im hintersten Winkel der Rocinha. Seine Familie ist auch dabei. Die evangelikalen Freikirchen wachsen stark, überall in Brasilien. Sie versprechen Rettung vor der Sünde und Segen, noch zu Lebzeiten. "Mit 17 war ich am Tiefpunkt angelangt, habe auf der Straße gelebt und Cachaça gesoffen", sagt Adauto. "Außerdem alle möglichen Drogen genommen, die ich bekommen konnte. Irgendwann später ging der Samen Gottes in mir auf. Als ich ganz unten war und keinen Ausweg mehr sah." Brutalität und Gewalt – sind nicht immer sichtbar, aber immer zu spüren. Aber ich erlebe hier auch Gemeinschaft und Zusammenhalt. Für viele Menschen ist die Rocinha: Heimat.
Autoren: Matthias Ebert und Joana Jäschke, ARD-Studio Rio de Janeiro
Und in der Langfassung von 45 Minuten in der ARD-Mediathek "Tür an Tür mit dem Gangster – Leben in Rios größter Favela"
Stand: 01.05.2023 00:06 Uhr
Kommentare