So., 12.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Gewalt gegen Frauen
Im Schnitt alle sieben Stunden wird in Brasilien eine Frau ermordet, wegen ihres Geschlechts. Tendenz steigend, auch durch die häusliche Isolierung in der Corona-Krise. Maria da Penha hat dieser Gewalt den Kampf angesagt. Die 74-Jährige sitzt im Rollstuhl, weil ihr Mann auf sie geschossen hat, nachts, als sie schlief. Sie brachte ihn vor Gericht, ging mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit – als eine der ersten Frauen überhaupt. "In Brasilien dominieren Männer die Gesellschaft" sagt sie. "Männer werden vor Gericht immer bevorteilt."
Durch ihr Engagement hat sich das geändert: Ein neues, strengeres Gesetz trägt ihren Namen: "Maria da Penha" – danach kann versuchter Frauenmord härter bestraft werden. Eine eigens geschaffene Polizei-Patrouille soll Frauen schützen, vor Gewalt in den eigenen vier Wänden, die in Brasilien noch viel zu oft Alltag ist.
Der Podcast "Gewalt gegen Frauen" ist ab Samstag in der ARD-Audiothek und auf allen Podcast Plattformen zu hören.
Ein Mord alle sieben Stunden
Schläge mit einem Schuh. Aufgenommen von einer Überwachungskamera. Auch wenn diese Bilder knapp zwei Jahre alt sind, wühlen sie Cristiane Carvalho und ihre Mutter auch heute noch auf. Es war der Beginn der Hölle, sagt Cristiane. "Ich hatte damals noch die Hoffnung, dass mein Mann sich bessert. Wir waren ja gerade erst vier Monate verheiratet gewesen. Ich hatte Träume: Er sollte der Mann meines Lebens sein; ich nannte ihn ‚Prinz‘. Bis zur Hochzeit war es wunderschön. Doch die häusliche Gewalt zerstörte dann unsere Familie.“
Cristiane hatte einen wohlhabenden und einflussreichen Diplomaten geheiratet. Doch der begann, nach Streitereien, zu schlagen. Auf sie einzustechen. Cristiane hatte bereits heimlich eine Kamera aufgestellt, als er mit einem Telefonkabel auf sie los ging. “Ich war Schubser, Faustschläge und Hiebe gewohnt. Aber dass er mich mit dem Kabel gewürgt hat, war der blanke Horror. Das grässlichste, was mir je passiert ist. Da lief ein Film in meinem Kopf ab – ich dachte an meine Kindheit, an meine Eltern – und mir wurde klar, dass ich diese Beziehung beenden muss. Zum Glück hatte ich diese Aufnahmen als Beweis.“ Gewalt gegen Frauen – ein immer größer werdendes Problem in Brasilien. Im Schnitt alle sieben Stunden wird eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Tendenz steigend – auch durch die häusliche Isolierung in der Corona-Krise.
Maria da Penhas Kampf gegen den Machismo
Besonders viele Fälle gibt es im Bundesstaat Ceará. Hier lebt – in einem kleinen Bungalow – die Frau, die dieser Gewalt den Kampf angesagt hat: Maria da Penha. Die 74-Jährige sitzt deshalb im Rollstuhl, weil ihr Ex-Mann in den 80er Jahren nachts heimtückisch auf sie geschossen hatte. „Er wollte sein Verbrechen sogar noch vertuschen. Ich war am Schlafen, als ich den Schuss hörte. Ich wollte mich bewegen, aber es ging nicht. Ich dachte: Er hat mich getötet.“ Mit Hilfe ihrer Töchter strengte Maria einen Prozess gegen ihn an. Und: Sie ging mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit. Als eine der ersten Frauen in Brasilien überhaupt. Doch all das schien vorerst nicht zu helfen – die Justiz griff nicht durch. „Nach dem ersten Urteil war ich aufgebracht. Denn obwohl er verurteilt worden war, konnte er Einspruch einlegen und kam vorläufig frei. Ich zog mich zurück und schrieb ein Buch über das, was geschehen war. Auch über die Widersprüche unseres Justizsystems, wenn es sich um männliche Täter handelt. Denn in Brasilien dominieren Männer die Gesellschaft. Das ist ein historisch gewachsener Machismo. Männer werden vor Gericht immer bevorteilt. Es fallen milde Urteile gegen Machos.“
Maria kämpfte weiter. Im Kongress forderte sie härtere Strafen bei Gewalt gegen Frauen – seit Jahrhunderten ein Problem in Brasilien. Ein neues, strengeres Gesetz trägt jetzt ihren Namen: Maria da Penha. „Erst seit dieser Regelung kann die Justiz voll durchgreifen. Mein Ex-Mann saß damals insgesamt nur zwei Jahre in Haft. Wenn er heute – nach Verabschiedung des „Maria-da-Penha-Gesetzes“ verurteilt worden wäre – müsste er viel länger einsitzen. Denn versuchter Frauenmord wird heute härter bestraft.“
Doch das ist nicht alles: Dank Maria da Penha wurde eine neue Polizeieinheit geschaffen. Die Patrouille „Maria da Penha“. Sie macht sich jeden Tag auf den Weg – ausschließlich zu Frauen, die von ihren Ex-Männern bedroht werden. Eine Hilfs-Maßnahme, die es erst seit acht Jahren gibt. Auch bei Cristiane Carvalho kommen die Polizisten mindestens einmal pro Woche vorbei. Sie geht kaum mehr auf die Straße – aus Angst vor ihrem Ex-Mann. Wie konkret die Gefahr ist, müssen die Polizisten herausfinden. “Wir kümmern uns um die Gefühle der Frauen – und die Bedrohungslage", sagt der Polizist Claudio dos Santos. "Das ist für mich persönlich eine ganz neue und spannende Tätigkeit. Maria da Penha hat mich als Mensch, als Mann, verändert.“
Kein Interesse für Frauenrechte bei Bolsonaro
Auch heute noch erhält Cristiane Drohungen von ihrem Ex-Mann. Der Diplomat wurde zu drei Jahren Hausarrest mit Freigang verurteilt. Als Schutzmaßnahme hat Cristiane ein elektronisches Warngerät bekommen. Denn ihr Ex-Mann darf sich ihr nicht nähern. “Mein Gerät hat schon mehrfach Alarm geschlagen und angezeigt, dass er sich mit seiner Fußfessel in einer Distanz von weniger als 200 Metern befindet. Er hat sogar schon meine Mutter durch andere Männer verfolgen lassen. Was kann man dagegen tun?“
Zumindest in der Hauptstadt Brasilia wird kaum etwas getan. Im Kabinett von Präsident Bolsonaro gibt es gerade mal zwei Frauen. Frauenrechte spielen für den Rechtsextremen kaum eine Rolle. Gelder dafür wurden gekürzt. Die vielen Errungenschaften von Maria da Penha sind ernsthaft in Gefahr. Dass die Regierung ganz offensichtlich Frauenrechte zurückschrauben will, macht viele weibliche Abgeordnete wütend. „Alle Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und auch die Frauenhäuser sind in Gefahr", empört sich Larissa Gaspar von der Arbeiterpartei. "Weil die Gelder gekürzt wurden, müssen wohl bald die wenigen Frauenhäuser, die wir haben, schließen. Das ist beschämend für Brasilien.“
Heute – eine weitere Auszeichnung für Maria da Penha. Sie ist jetzt auch Ehrenbürgerin der Stadt São Paulo. Auch dort wird ihr Kampf bewundert, der noch lange nicht gewonnen ist. „Unsere Gesellschaft ist noch immer sehr machistisch. Um das zu ändern, müsste man in Bildung investieren. Aber das tut unsere Regierung einfach nicht.“ Cristiane Carvalho hofft, dass zumindest für sie der Albtraum irgendwann endet – und ihr Mann sie in Ruhe lässt. Immerhin, sagt sie, habe sie Vorbilder, die ihr Mut machen. “Wenn Frauen wie Maria da Penha früher nicht aufgeschrien hätten, hätte ich vielleicht nicht die Kraft gefunden, meinen Mann anzuzeigen. Er wäre dann nie verurteilt worden zu drei Jahren Hausarrest.“ …für brutale Gewalt in den eigenen vier Wänden. Die in Brasilien noch immer viel zu oft Alltag ist.
Autoren: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro und Thomas Aders, SWR Stuttgart
Stand: 15.07.2020 14:29 Uhr
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