Mo., 21.08.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Brasilien: Ein Jahr nach Olympia wächst die Armut
Rio Zentrum, es ist kurz nach vier. Sem-Tetos nennt man sie hier, Menschen ohne Dach. So viele von ihnen gab es noch nie, Brasilien befindet sich im freien Fall. Einer von mindestens 20.000 Obdachlosen: Gilson de Oliveira Dias. 30 Jahre hatte er als Hilfsarbeiter durchgehend einen Job. Bis zum vergangenen Dezember, als seine Firma ihm kündigte. Arbeit weg, Wohnung weg, kein Cent vom Staat. Gilsons größte Angst: dass die Behörden ihm jetzt die vierjährige Tochter wegnehmen. Daher schläft Mutter Helen mit der Kleinen so oft bei einer Freundin wie nur möglich. Für Gilson ist dort aber kein Platz – die Familie ist auseinandergerissen.
Ein Rest von Normalität
Morgens immerhin bringen die beiden ihre Tochter gemeinsam zum Kindergarten, im alten Umfeld. "Wie sollte ich eine Wohnung mieten?", fragt Gilson. "Viel zu teuer. Was ich auf der Straße verdienen kann, reicht weder zum Wohnen noch zum Essen." Seine Frau Helen sagt: "Das ist schon sehr traurig, dass wir als Familie nicht zusammen sein können. Er auf der Straße, ich und meine Tochter getrennt von ihm." Der Gang zum Kindergarten – ein Rest von Normalität, keiner soll wissen, dass sie kein Zuhause mehr haben.
Vom Staat gibt es nicht einmal ein Busticket
Sieben Uhr morgens, Gilson beginnt sein Tagewerk. 15, manchmal 20 Kilometer läuft er täglich, bis zum Sonnenuntergang. Vom Staat gibt es nicht einmal ein Busticket, geschweige denn eine Mahlzeit. Mildtätige Privatleute spenden hier und da ein Frühstück – heute im Viertel Flamengo, unweit des Atlantiks. Wasser, Saft, ein Butterbrot, Kaffee. "Die Leute machen das ganz toll, eine prima Sache", sagt Gilson. "Ich komme gerne hierher, dieser Kaffee ist sehr wichtig."
Der Niedergang begann mit Olympia
Nicht weniger als 280 Obdachlose sind heute gekommen, für die meisten von ihnen begann der Niedergang vor ziemlich genau einem Jahr. "Bis zu den Olympischen Spielen war alles gut, es gab genügend Jobs", erzählt ein Betroffener. "Als sie vorbei waren, ist alles zusammengebrochen. Die Krise hat uns voll erwischt, und es wird schlimmer." Nicht nur die Sozialleistungen sind weggefallen, auch die Sicherheit in Brasilien löst sich auf, vor allem in Rio.
Viele Todesfälle unter Polizisten
Die Gewalt ist zurückgekehrt. Während der WM und den Olympischen Spielen waren die Favelas mit einem Riesenaufgebot an Polizisten befriedet worden, jetzt ist es schlimmer als zuvor. Seit Anfang 2017 haben die Todesfälle unter Polizisten sich im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. Jener Polizist, der am 11. August hier in der Favela Jacarezinho durch einen Halsschuss umkam, war bereits der 96. in diesem Jahr. In einem Vorort von Rio tragen ihn seine Kameraden zu Grabe, mehr als 500 sind gekommen, die Beerdigung wird zu einem gewaltigen Aufschrei des Protests. Die Sicherheitskräfte fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. "Es gibt keine Sicherheit mehr", sagt Polizist Luiz Machado. "Weil sich die soziale Gerechtigkeit aufgelöst hat, und wegen der großen Armut. Es ist fast aussichtslos, dagegen anzukämpfen. Ein Beispiel: Wenn ein Familienvater mit zwei, drei Kindern fünf Monate lang Hunger hat, dann ist das krank. Es gibt kein gutes Gesundheitssystem, dazu die hohe Arbeitslosigkeit. Die einen verdienen Millionen, und die anderen haben gar nichts."
Klinkenputzen bei der Suche nach einem Job
Früher Nachmittag. Gilson will nicht warten, bis man ihm einen Job anbietet, das passiere eh nicht, sagt er. Also stiefelt der ehemalige Hilfsarbeiter von Laden zu Laden und putzt Klinken. Er würde alles machen, Putzen, Spülen, Botengänge, Lagerarbeit. "Das ist schon bitter, bei der Arbeitslosigkeit überall", sagt Gilson. "Ich klopfe an die Türen, klopfe und klopfe, bislang vergeblich. Meine Hoffnung ist, dass sich vielleicht irgendwann eine öffnen wird."Es beginnt der anstrengendste Teil – das Dosensammeln im tiefen Sand der Copacabana. Ein Kilo Aluminiumdosen bringt umgerechnet 60 Euro-Cent. Aber der Winter ist keine gute Jahreszeit. Gerade hat die Regierung wieder mehr als einer halben Million Familien die Sozialhilfe gestrichen, die meisten von ihnen werden wohl ins Bodenlose fallen, genau wie Gilson. Noch einmal trifft er seine Familie, die kurze Zeit mit seiner Tochter ist für ihn die wichtigste des Tages. "Wie kann ich da aufgeben?", sagt er. "Die Kleine braucht uns. Genau wie wir sie brauchen, aber sie braucht uns mehr. Verstehst du? So ist das Leben, das wir führen. Aber Gottseidank – wir können weitermachen." Die Tochter weiß, dass der Papa jetzt wieder gehen muss, wie jeden Abend. Zuerst die schönsten Minuten, und gleich danach die schlimmsten.
Ein magischer Moment
Vorbereitung für die kommende Nacht. Gilsons Bettwäsche – versteckt unter 30 Kilo Stahl. Gilson hat viel dazu gelernt in seinem ersten halben Jahr auf Rios Straßen. Kochen mit einigen Kameraden, das Essen kostet ein paar Cent. Niemals gönnt Gilson sich etwas privat, alles gibt er an seine Frau und Tochter weiter. Plötzlich – ungläubige Blicke, die katholische Kirche auf der anderen Straßenseite feiert eine Heilige mit Getöse. Ein magischer Moment, als ob das Feuerwerk für Gilson wäre. Er hätte es verdient.
Autor: Thomas Aders, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 20.07.2019 14:05 Uhr
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