So., 28.08.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Skaten auf Plastikdeckeln
Wie können Skateboards helfen, in Rios größter Favela Plastik-Müll zu vermeiden? Diese Frage treibt den Kanadier Arian Rayegani um, der hier – inmitten von tausenden Flaschendeckeln – seine Vision von Nachhaltigkeit verwirklicht. In seiner improvisierten Freiluft-Werkstatt hat der 28-Jährige dem Müll den Kampf angesagt – zumindest was die Deckel angeht. "Ich habe bereits 400 Kilo Deckel erhalten. Noch habe ich es nicht geschafft, sie alle zu recyceln. Aber es geht voran", sagt er.
Dafür muss einer von Arians Helfern erstmal alle Deckel reinigen. "Früher wurden Deckel in unserer Favela Rocinha einfach weggeschmissen. Jetzt dagegen ist eine Art Recycling-Fieber ausgebrochen, seit Arian uns gezeigt hat, dass man daraus Skateboards bauen kann", erzählt Cleyton Moura. Die Pläne dafür hat Arian als Maschinenbauingenieur selbst entworfen. Herzstück ist diese Metallform, in der 500 Deckel zu einem Skateboard geschmolzen werden – hier in diesem handelsüblichen Pizza-Ofen. "Skateboards sind als Produkt aus meiner Sicht ideal, weil sie vergleichsweise langlebig sind und ich dafür viele Deckel auf einmal recyceln kann. Als ich zum ersten Mal ein Plastik-Skateboard auf der Straße sah, dachte ich: Mensch, das kann ich nachhaltig herstellen!", erzählt Arian.
Die Müll-Recycler der Rocinha
Jeden Tag zündet Arian seinen silbernen Ofen an – und lässt die Deckel bei 180 Grad schmelzen. Vor acht Jahren war er erstmals nach Brasilien gereist, hat sich in diesen Ort verliebt und betreibt seitdem dieses Nachhaltigkeitsprojekt. Auslöser waren die riesigen Müllhaufen – die Abfälle von mehr als 100.000 Einwohner:innen. Um die Deckel zu sammeln, helfen Arian jetzt viele Leute: die Müll-Recycler der Rocinha.
Eine davon ist Maria do Rosario. Mit dem Sammeln von Plastikflaschen, Dosen und Glas verdient sie umgerechnet 650 Euro im Monat. Die Deckel separiert sie nebenbei – sozusagen ehrenamtlich: "Für uns ist Müll wertvoll und bringt Geld. Mein Sohn und ich sammeln dort unten die Dinge für den Wertstoffhof. Und hier die Deckel – die nehmen wir meist mit nach Hause." Viele Nachbar:innen helfen Maria, indem sie die Deckel vorsortiert bei ihr abliefern. "Wir wissen, dass die Deckel wiederverwertet werden, deswegen geben wir sie Maria. Wir haben ja hier beim Plastik eine Art lokale Kreislauf-Wirtschaft", sagt Andrea Perreira.
Mit Müllsammeln über die Runden kommen
Der Sozialarbeiter Marcelo Queiroz arbeitet mit Arian zusammen. Er leitet das Recycling-Netzwerk, an dem auch Maria teilnimmt: "Danke, Maria. Das hilft der Umwelt und wird für einige neue Skateboards reichen.“ Maria lebt mit ihren fünf Kindern auf engem Raum mitten in der Rocinha. "Es gab hier mal eine Kampagne zum Müll-Recycling. Im Zuge dessen habe ich auf der Müllkippe angefangen. Drei Jahre ist das her", erzählt sie.
Marcelos Hilfsorganisation gab ihr dabei Starthilfe: "Wir haben Maria gezeigt, wie sie mit Mülltrennung Geld verdienen kann. Insgesamt leben heute auf unseren 24 Müllkippen in der Rocinha acht Familien vom Müll-Recycling. Alle bringen – so wie Maria – zwei Mal pro Woche alles zum Wertstoffhof." Marias Beifang, die Deckel, landen am Ende in Arians Metallform. Die wird – fest verschraubt – im Wasserbad runtergekühlt. "Ich bin echt glücklich, dass wir dieses nachhaltige Produkt entwickelt haben, das den Leuten auch noch Spaß bringen soll", sagt Arian. Mit einem scharfen Messer wird das Skateboard in Form gebracht. Das überschüssige Plastik verwendet Arian später wieder.
Skateboards sollen erst der Anfang sein
Noch kann er von der Skateboard-Produktion nicht leben. Denn erst seit Kurzem verkauft er seine Bretter übers Internet – für 90 Euro das Stück. Eigene Design-Wünsche inklusive. Mit einem Teil der Erlöse finanzieren Arian und Marcelo immerhin schon ein Sozialprojekt: Lebensmittelpakte für bedürftige Familien. Zucker, Nudeln, Mehl, und Reis. "Als mein Baby zur Welt kam, wurde mir gekündigt. Jetzt bin ich arbeitslos. Mein Mann arbeitet zwar, aber sein Gehalt reicht nur für die Miete", erzählt Francisca Braga und Carol Gomes sagt: "Ich esse schon lange kein Fleisch mehr. Ich kann mir nur Reis, Bohnen und Eier leisten."
Arian und Marcelo haben bereits ihr nächstes Ziel fest im Blick: Ankunft eines gebrauchten Roboters, der das Plastik-Recycling auf ein neues Niveau heben soll. Den hat Arian von seinen Ersparnissen bezahlt. Er glaubt fest daran, dass sich das Projekt schon bald rechnet: "Ich will jetzt Robotik und neue Technologien mit Ingenieurskunst, Architektur und Recycling verbinden. Um nachhaltige Produkte zu schaffen, die beliebt sind. Ich glaube, das wird funktionieren."
Die ersten Tests für Plastiktische und -stühle sind vielversprechend. Bald soll dieser 3-D-Drucker sechs Kilo Plastik pro Stunde verarbeiten. Gute Aussichten also für die Rocinha – die Favela, in der immer mehr Menschen mithelfen, Plastik-Müll in bunte Skateboards zu verwandeln.
Autor: Matthias Ebert/ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 28.08.2022 20:13 Uhr
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