So., 05.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Ultras gegen Bolsonaro
Sie wiegt gerade mal fünf Kilo – die Fahne der Ultras vom Fußball-Klub Corinthians. Für Rogerio Bassetto ist ihr politisches Gewicht jedoch ungleich höher.
Proteste für demokratische Grundwerte
Denn die Fahne steht für den besonderen Geist der Ultras von Corinthians – einem der Top-Klubs in Südamerika. Rogerio sagt: Für uns Ultras ist die Demokratie nicht verhandelbar. "Unsere Regierung dort in der Hauptstadt steht für den Geist von Rassismus und Faschismus. Dagegen kämpfen wir Ultras." 'Corinthians-Demokraten' nennen sich die Fußball-Fans, die in São Paulo die Proteste für demokratische Grundwerte anführen – mitten in der Pandemie.
"Wir Corinthians-Ultras gehörten auch zu den ersten, die in den 80ern gegen die Militärdiktatur auf die Straße gegangen waren. Das hat mein Bewusstsein geprägt. Ich habe diese Fahne gestaltet, um das Erbe von Socrates wach zu halten. Denn er hat uns politisiert", so Rogerio Bassetto, 'Democracia Corinthiana'.
Socrates. Eine Corinthians-Legende. Mittelfeld-Star. Nationalspieler. Und politisch extrem aktiv – gegen Brasiliens Militärdiktatur. So startete er in seinem Verein Corinthians Anfang der 80er eine Bewegung für die Demokratie. Als 'Socrates‘ Erben' sehen sich die 'Gaviões da Fiel' – die treuen Falken. Der Corinthians-Fanklub ist einer der größten der Welt. Mit mehr als 100.000 Mitgliedern. Ihre Fahne hüten die Ultras wie ihren Augapfel. Zumindest darin unterscheiden sie sich in Nichts von anderen Fußball-Fans.
Hilfe für Brennpunkte in São Paulo
"Ich bin öfters hier im Klubhaus, als zu Hause. Wir Ultras helfen uns gegenseitig – aber auch anderen außerhalb des Klubs. Jedem, der unsere Hilfe braucht", sagt Cleber Sobrinho, 'Gaviões da Fiel'. Gerade verpacken sie Kleiderspenden. Die treuen Falken sind seit Jahren – ehrenamtlich – sozial engagiert. In der Corona-Krise bereiten sie außerdem jede Menge Essen zu. Allein heute sind es 1.000 Mahlzeiten, die Luciana Cludi und ihr Team später auf der Straße verteilen wollen. "Wir haben gesehen, dass in der Pandemie alle zu Hause bleiben. So sind die Obdachlosen isoliert. Restaurants bleiben geschlossen – und es gibt für sie keine Möglichkeiten zum Betteln mehr", erzählt Luciana Cludi, 'Gaviões da Fiel'.
Also packen die Ultras der Falken mit an. Und fahren die Essenspakete mit ihren Privat-PKW aus. Im Konvoi steuern sie die vielen Brennpunkte in São Paulo an. Und werden dort bereits erwartet. Hinter dieser Mauer befindet sich eine Schule, die seit Jahren geschlossen ist. Rund 60 Familien haben sie nun besetzt. Die Kinder stehen vorne an – für Reis, Nudeln, Wurst und etwas rote Beete. Viele der Schul-Besetzer leben erst seit wenigen Wochen hier.
Zuneigung für Bedürftige
"Ich konnte in der Krise meine Miete nicht mehr zahlen. Meine Frau und ich wurden arbeitslos. Wir haben drei Kinder. Also blieb uns nur übrig, hierher zu kommen. Diese Baracke habe ich selbst gebaut", erzählt Willian Luis dos Santos, Familienvater. Er zeigt uns seine vier Wände. Küchenschrank, Bett und Herd haben sie aus ihrer Mietwohnung hergeschafft. Jetzt hoffen sie auf bessere Zeiten. Die nächste Station: Eine Autobahnbrücke. Die Ultras gehen dahin, wo sonst kaum ein Brasilianer seinen Fuß hineinsetzen würde. Oben rasen Busse vorüber. Unten hat Gilmar Viera sich und seiner Familie eine Bleibe gezimmert. Auch er ist einer der vielen neuen Armen der Virus-Krise.
"Ich war fliegender Händler auf der Straße. Jetzt ist mein Geschäft tot und ich weiß nicht, wie ich meine Familie ernähren soll", sagt Gilmar Vieira.
Da kommt das Essen der Ultras gerade recht. Einer der Falken hat – nicht mehr ganz nüchtern – spontan seine Schuhe verschenkt. "Das Essen ist nicht das Wichtigste. Sondern die Zuneigung, die wir zeigen. Jeden Samstag kommen wir her und so entstehen Verbindungen, Freundschaften. Ich vermisse sie unter der Woche und will samstags wissen, ob es ihnen gut geht", so Luciana Cludi, 'Gaviões da Fiel'.
Proteste überall in Brasilien
Die Obdachlosigkeit ist sprunghaft angestiegen. Das fällt auch im schicken Zentrum von São Paulo ins Auge. Diese Brasilianer zahlen einen hohen Preis in der Pandemie. Und die Ultras tun das, was eigentlich die Regierung tun müsste. Doch die ist hier nicht präsent. Auch das ärgert die Fußball-Fans. Sogar bislang verfeindete Ultra-Gruppen haben sich zum Protest zusammengeschlossen, überall in Brasilien. Sie fordern, dass sich die Regierung um die Corona-Krise kümmert, anstatt die Demokratie auszuhöhlen.
"Regierungsmitglieder fordern einen Putsch und äußern sich antidemokratisch. Deshalb müssen jetzt in der Pandemie gemeinsam demonstrieren", sagt Vinicius Guimarães, Flamengo-Fan.
Die Regierung ihrerseits sieht in den Ultras eine Bedrohung. Der Präsident nannte sie öffentlich "Terroristen". "Präsident Bolsonaro denkt, dass wir Demokraten Terroristen seien. In Wahrheit ist aber er ein Terrorist. Er enthält vielen Brasilianern die Nothilfen vor und schützt sie nicht. Was ist das für ein Typ", so Emerson Osasco, 'Gaviões da Fiel'.
Nebenan singt Rogerio: "Verpiss Dich, Diktatur!". Sein Demokratie-Protest verläuft friedlich. "Nach all den Monaten in Isolation sehe ich eins ganz klar: Schlimmer als das Corona-Virus ist der Rassismus und diese rechtsextreme Politik unserer Regierung", sagt Rogerio Bassetto, 'Democracia Corinthiana'.
Mit ihrer Fahne wollen Rogerio und die anderen Ultras bald wiederkommen – protestieren. So wie damals, in der dunklen Zeit der Diktatur.
Autor: Matthias Ebert/ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 06.07.2020 16:02 Uhr
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