So., 11.08.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
China: Gedichte von Wanderarbeitern
Rund 300 Millionen Wanderarbeiter arbeiten in China weit entfernt von ihrem Heimatort. Sie sind Bürger zweiter Klasse, haben weniger Rechte und leben oft am Rand der Städte. Einige drücken ihr Lebensfühl in Form von Gedichten aus.
Gedichte beschreiben den Arbeitsalltag
"Mein Name ist Hu Xiaohai. Einst war ich ein 17 Jahre alter Junge voller Träume. Aber jetzt wird mein Ehrgeiz langsam von der Zeit begraben." Xiaohai fing mit 15 Jahren an in Fabriken im Süden Chinas zu arbeiten, um seinem Bruder die Schule mitzufinanzieren. Weit weg von seinem Zuhause in Zentralchina schuftete er tags und oft nachts in Textil- und Handyfabriken. Sein ganzer Halt: die Welt der Literatur. Einen deutschen Dichter, Friedrich Hölderlin, mag er besonders:
"Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom
Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat,
So käm' ich auch zur Heimat,
hätt' ich Güter so viele wie Leid geerntet."
Friedrich Hölderlin: Die Heimat
"Grosse Emotionen sind universell", sagt Xiaohai. "Hölderlin schrieb über seine Gefühle in Deutschland, aber selbst hier in diesem Moment haben wir die gleichen Gefühle. Seine Gedichte sind eine Offenbarung."
In dieser Straße am Pekinger Stadtrand lebt und arbeitet Xiaohai. Er verkauft Second-Hand-Klamotten an hier lebende Arbeiter, deren zuhause oft tausende Kilometer entfernt ist. Kleidung, die sie sich sonst nicht leisten könnten. "In den Fabriken sind wir nur kapitalistische Maschinen, die Arbeit hier bedeutet: die Kleidung wertzuschätzen." 13 Jahre lang hat er in Fabriken geschuftet, viele Wegwerf-Klamotten produziert. Bis zu 15 Stunden am Tag musste er durcharbeiten, Freizeit gab es kaum. Er zeigt uns Fotos von seiner Arbeit damals, er nähte T-Shirts, Hosen, ohne Pausen, es ging um Schnelligkeit. Lohn: umgerechnet 150 Euro im Monat.
Bürger zweiter Klasse, fern der Heimat
Das war die Zeit, vor zehn Jahren, da fing er an Gedichte zu schreiben: "Unseren Händen fällt es zunehmend schwer mit dem Rhythmus der Maschinen mitzugehen, wieder und wieder und wieder, vor und zurück. Unsere Jugend, von Schrauben verzehrt." Seither hat er unendlich viel geschrieben, in China sind Gedichte schon veröffentlicht. Und einige sogar ins Englische übersetzt. So wie dieses hier: "Ich bin ein chinesischer Arbeiter. Lasst das Geheimnis der Worte 'Made in China' jeden Fluss überschwemmen, der zu den vier Meeren und den sieben Kontinenten hinfließt. Das ist alles, was wir tun können." Xiaohai sagt: "Ich fühle mich wie ein Überlebender, der es rausgeschafft hat aus diesem Umfeld. Ich habe zu viel Schmerz erfahre." Die Gedichte sind für ihn wie Medizin.
Es gibt rund 300 Millionen Wanderarbeiter in China, die fern ihrer Heimatdörfer in Industrieregionen Geld verdienen müssen, oft als Tagelöhner. Sie sind Bürgerinnen zweiter Klasse im Land, keine Absicherung, weniger Rechte. Hier am Pekinger Stadtrand, wo auch Xiaohai wohnt, leben viele von ihnen. Dort gibt es – noch – Treffen einer Literaturgruppe. Xiaohai gehört auch dazu, er und andere der Gruppe sind bekannt in China. Es gibt Artikel und Filme, wie diese hier. Ein Theater über das sogar Staatsmedien berichteten, war für Xiaohai ein wichtiger Ort, es geht um Identität. Und die harten Arbeitergeschichten, die sonst ungehört bleiben. Das Ganze ist Teil einer Arbeiter-NGO "Workers Home". Doch die Behörden hatten beschlossen, Teile dieses Viertels abzureißen. Wo bis vor einem Jahr ein Museum, Theaterraum, Bibliothek und Kino waren, ist heute Brachland. Diese Art von wohltätiger Arbeitergemeinschaft, schon ein sensibles Thema in China: sie haben jedenfalls keinen neuen Ort bekommen.
Die Lyrik bringt ein Gefühl der Freiheit
Wenli gehört auch zum Künstlerzirkel, sie kehrt heute 1.300 Kilometer nach Hause Richtung Westen zurück. Die Wanderarbeiterin war in Peking zuletzt Haushaltshilfe, zuvor in anderen Städten, auch in einer Fabrik. "Wie oft bin ich zwischen meiner Heimatstadt und fremden Orten hin und her geeilt, nur um die Distanz zwischen Leben und Traum zu verkürzen. Aber jetzt stehe ich da mit leeren Händen, unsicher. Ich weiß nicht, wohin. Auf Wiedersehen, Peking."
Ihr Traum: als Künstlerin und Frau unabhängig zu leben. Die Reise zu ihr nach Hause dauert einen Tag, normale Distanzen in China. Ihren Mann hat sie seit Monaten nicht gesehen. Er arbeitet als Koch 40 Autominuten von hier entfernt. Wenli geht zurück in ihre Rolle als Hausfrau und Großmutter. Erst einmal muss ihr Fußknöchel heilen, den hat sie sich gebrochen. Die Begrüßung mit der Tochter, vor der Kamera extrem distanziert. "Bist Du glücklich, dass Deine Frau zurück ist?" Wenig Reaktion. Wenli scheint entfremdet von hier.
In ihrem Dorf sind die meisten Jungen weggezogen, in die großen Städte. Die Älteren bleiben hier. Wenlis Familie wollte, dass sie zurückkehrt. Sich um die Enkelkinder kümmert. Dabei träumte sie doch von mehr Unabhängigkeit. Sie dichtet nicht nur, sie malt auch. Es geht für sie wie die anderen auch darum, Leben und Gefühle der Wanderarbeiter festzuhalten. "Wenn ich Schwierigkeiten, die ich für unüberwindbar halte, aufschreibe, dann wird mein Herz befreit. Ich bin bereit die nächste Schwierigkeit, das nächste Problem, das unlösbar scheint, willkommen zu heißen." Auch für sie ist die Poesie ein Halt, sie bringt ihr Frieden und ein Gefühl der Freiheit. Wenli und auch Xiaohai hoffen, dass ihnen die Literaturgruppe noch möglichst lange ein Zuhause bleibt.
Autorin: Marie von Mallinckrodt
Stand: 12.08.2024 12:22 Uhr
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