So., 28.07.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
China: Neue Wege der Trauer
Die Preise von Grabstätten in Chinas Großstädten gehen rasant in die Höhe. Zwei Jahreseinkommen für das Plätzchen Erde sind keine Seltenheit. Neue Formen der Beerdigung propagiert daher die Regierung. Ein Trend: nur kleine Plaketten auf dem Friedhof – dafür umso mehr Ausschmückungen im digitalen Raum. Online-Friedhöfe, digitale Blumen und Deepfakes von Angehörigen erobern die Trauerwelt. Eine Reportage von Shanghais Friedhöfen.
Indoor-Bestattung im Friedhofs-Hochhaus
Chen Xiaomei auf dem Weg zu ihrem Grabstein. Ein moderner, chinesischer Friedhof bei Shanghai – überraschend ähnlich wie ein Friedhof in Deutschland. Was anders ist: Chen Xiaomei hat ihre Grabstätte als Geldanlage gekauft. "Ich dachte mir, dass Grabstellen in Zukunft noch teurer werden könnten. Innerhalb von 10 Jahren hat sich der Preis für den Platz meiner Eltern bereits verdoppelt." Friedhöfe in Chinas Großstädten sind oft in privater Hand und Nachfrage bestimmt den Preis. Im letzten Jahrzehnt treibt die zunehmende Überalterung die Kosten in die Höhe. "Derzeit bräuchte ich fast zwei Jahreseinkommen, um diesen Platz zu kaufen – vorausgesetzt, man isst und trinkt nichts. Wenn man essen und trinken will, dauert es definitiv länger als zwei Jahre. Es ist ziemlich teuer."
Erdbestattungen sind die Jahrtausende Jahre alte Tradition in China. Aber weil sogar weit außerhalb der Großstadt die freien Flächen zugebaut werden, sind alternative Bestattungen ein Trend. Yang Mujiang überlegt sich, die Asche seines gerade verstorbenen Großvaters im Friedhofs-Hochhaus aufzubewahren. Eine kleine Box kostet hier nur ein Zehntel der Grabstätte draußen. "Eine Indoor-Bestattung sieht sehr anders aus als eine Bestattung draußen, die eine naturnahe Umgebung hat. Man könnte sich bedrückt fühlen, weil alles dicht an dicht ist, und der optische Eindruck ist nicht so gut." Die Asche ist direkt hinter der Deko. Nach daostischer Lehre ist das ein schlechtes Feng-Shui. Dafür ermöglicht diese Box mehr Raum für Andenken. Hier war jemandem offenbar das Rasieren wichtig … oder dieser Person das Rauchen.
Auf jeder Etage ist der Stil unterschiedlich. Dies soll ein westlicher Stil sein. Manchmal mehr wie ein Wohnzimmer … oder wie im Schlafzimmer, meint Yang. "Dieser Raum ist viel besser als der vorherige." Warum denkst du, dass er besser ist? "Die Atmosphäre hier ist besser als im vorherigen Raum. Das Personal hat gerade erklärt, dass der Platz für die Asche und der Platz für Andenken hier komplett getrennt sind." Yang zieht es für seinen Großvater aber mehr nach draußen.
Vom Online-Grab zum Avatar
Die Aktiengesellschaft, die diesen Friedhof betreibt, hat auf einem Teil der Anlage ein ganz neues Konzept entwickelt. Eher Park als Friedhof, die Grabsteine übersieht man fast. "In den Köpfen der Chinesen sind traditionelle Friedhöfe sehr gruselig", meint Yuan Tianlun, "und viele Menschen wollen nicht dorthin. Aber wenn wir ins Ausland gehen, sehen wir, dass Friedhöfe eigentlich sehr offene und schöne Orte sind. Viele Menschen kommen zum Spazierengehen, Hunde ausführen oder sogar Kaffee trinken."
Die Idee: der Friedhof soll durch einen digitalen Raum erweitert werden. Hier stehen kreative Andenken, auf dem Bildschirm nebenan können die Angehörigen in Erinnerungen schwelgen. "Man kann Fotos hochladen, so viele man möchte. Jeder Verwandte hat seine eigenen Fotos. Hier, klick’ auf das Fotoalbum, um Frau Qin Yi zu sehen. Das ist in der Online-Gedenkhalle. Ihre Familie und Freunde haben uns viele Fotos und Videos geschickt. Auch sehr rührende Segenswünsche.
Nur Angehörige haben Zugang zu diesem Bereich. Digitale Blumen oder eine Kerze kann jeder online schicken. Die Ehrung der Ahnen hat in China eine große Bedeutung, sie ist Teil des Konfuzianismus. Yang Mujiang ist diese Tradition wichtig. "In China geht es beim Ahnenkult darum, die guten Eigenschaften von Großvätern und Vätern an künftige Generationen weiterzugeben. Unsere Familie legt viel Wert darauf. Aber wenn ein Kind das traditionelle Gräbersäubern ablehnt und nicht kommt, geht der Sinn verloren."
Um auch der jüngeren Generation den Gang zum Grab zu erleichtern, bieten immer mehr Friedhöfe auch eine Online-Grab-Version an. Lange Lockdowns hatten die digitalen Blumen populär gemacht. Im Showroom des Friedhofs bekommt Yang den neusten Trend präsentiert: Avatare von den Verstorbenen. Die künstliche Person antwortet sogar auf Fragen. "Was sind deine Hobbys?" fragt der Grabverkäufer. "Ich mag Fotografie... Ich schaue jeden Tag Filme. Filme sind manchmal tiefgründiger als Nachrichten und beleuchten verschiedene Länder und ihre Kulturen."
Künstliche Intelligenz auf dem Friedhof
Im chinesischen Internet boomt das Geschäft der Wiederauferstehung. Ab umgerechnet drei Euro gibt es schon animierte Fotos. Und ab 1.000 Euro kann die Verstorbene auf jede Frage eine Antwort bieten – dank eines Computer-Systems wie ChatGPT. Moralische Hemmungen? Nein, neue Technik ist in China nicht erst einmal schlecht. Buddhisten und Daoisten sprachen früher in China viel mit den Seelen der Verstorbenen, die neue Generation spricht eben mit Technik. "Früher haben wir nur einen Platz Erde gehabt", sagt Yang Mujiang. "Heutzutage zumindest einen mit Grabstein. Aber auf dem Grabstein stehen nur wenige Worte, wie Namen, Lebensdauer usw. Wenn meine Kinder bald zur Beerdigung ihres Urgroßvaters gehen, kennen sie nur seinen Namen. Diese Visualisierung ist sehr wertvoll."
Chen Xiaomei will keinen digitalen Schnickschnack. Sie hat keine Kinder und daher andere Prioritäten. "Ich bin sehr zufrieden mit meiner Grabstätte. Sie ist sehr nah an der meiner Eltern. Wir sagen eine Suppenschalendistanz. Ich bin nicht verheiratet und habe immer bei meinen Eltern gelebt und ihnen versprochen, dass wir auch unter der Erde zusammen sein werden. In China gibt es keine einheitliche Auffassung über die Bedeutung der Grabstätte und die Wiedergeburt nach dem Tod. Aus Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus hat sich jeder etwas zusammengebraut. Pragmatismus ist die größte Religion und da gilt: gut ist, was hilft.
Autorin: Tamara Anthony, ARD-Studio Peking
Stand: 29.07.2024 01:01 Uhr
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