So., 29.05.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
China: Schlafen auf der Werkbank
Fotos und Videos aus Sozialen Netzwerken: Darauf sieht man Isomatten und Schlafsäcke ausgebreitet unter Fabrikmaschinen. Hunderte Zelte in riesigen Hallen neben dem Produktionsbetrieb. In Shanghai dürfen trotz Lockdown inzwischen etwa 4.000 Großunternehmen produzieren, beispielsweise Siemens, Tesla, VW, Bosch etc.
Die Voraussetzung: die Arbeiter dürfen das Fabrik-Gelände nicht verlassen. Tausende leben nun schon seit vielen Wochen unter der Werkbank. Die Bedingungen vor Ort werden damit immer desaströser. In chinesischen Videos rühmen sich Unternehmensvertreter – für ihren Einsatz. Die Video-Tagebüchern der Fabrikarbeiter sind nicht nur guter Stimmung.
Tag und Nacht in der Fabrik
Sie schlafen in den Werkshallen, bleiben Tag und Nacht bei der Arbeit. Das war die Bedingung, dass sie hier überhaupt wieder produzieren durften. Videos aus den sozialen Netzwerken. Allein in Shanghai haben inzwischen 4.000 Fabriken die Arbeiter auf dem Gelände eingesperrt, um die Maschinen wieder anzufahren. Ansonsten ist in Shanghai seit Ende März quasi alles dicht, alle Geschäfte geschlossen, niemand auf der Straße, Online-Bestellungen fast unmöglich. Lieferungen brauchten oft Wochen. "Es fand ja dann sozusagen ein Wettbewerb statt, wer am meisten und am schnellsten Schlafsäcke etc. einkaufen kann", erzählt Peter Willemsen von Rheinmetall China. "Erstaunlicherweise kriegt man sie. Also wir haben eigentlich keine Stelle gehabt, wo man sagt, da müssen die Leute jetzt auf dem Boden schlafen."
Peter Willemsen ist Chef von Rheinmetall China, die dort ein Autozulieferer sind. Er selbst ist nach einem Aufenthalt in Deutschland in einem Hotelzimmer in Quarantäne. Etwa 800 seiner Mitarbeiter sind an verschiedenen Standorten auf dem Fabrikgelände eingeschlossen. Jeden Tag ein Covid-Test. Schlafen auf dem Werksgelände. Die meisten über Wochen. "Wir fragen auch die Leute, ob sie kommen wollen. Sie müssen nicht kommen. Es gibt auch einige Leute, die sagen, das kann ich nicht, weil ich habe zuhause Familie und ich muss mich darum kümmern. Und das ist dann auch okay und führt auch nicht irgendwie zu betriebsbedingten Kündigungen oder ähnlichem.
Keine Chance, das Fabrikgelände zu verlassen
Doch andere Unternehmen gehen weniger zimperlich vor im Versuch, die Produktion irgendwie am Laufen zu halten. Die Niederlassung von Quanta in Shanghai. Hier stellen sie vor allem Apple-Produkte her. 40.000 Menschen arbeiten in normalen Zeiten auf diesem Gelände. Der Blick aus dem fabrikeigenen Wohnheim auf der gegenüberliegenden Fluss-Seite. Etwa zweitausend Arbeiter hat das Unternehmen aus dem Lockdown in Shanghai geholt. "Das ist, als würde man vor einer Hungersnot fliehen", kommentiert der Arbeiter, der diese Aufnahmen macht. Ein Interview mit uns lehnt er ab – aus Angst um seinen Job.
Zunächst müssen alle auf Covid untersucht werden. Dafür müssen sie sich jeden Tag selbst testen und mehrere Tage in einer Isolationseinrichtung ausharren. Wer weiter covid-frei bleibt, darf in die Fabrik zur Arbeit. "Heute bin ich in die Fabrik eingezogen. Morgen wird unser Gehalt verdoppelt.", erzählt der filmende Arbeiter. Alles ist improvisiert. Duschen gibt es nicht. Dafür bekommt jeder eine Waschschüssel mit Handtuch, Zahnpasta, Duschgel etc. Essen scheint keine Mangelware. Nur räumlich ist es sehr beengt. Die ersten Tage schlafen sie unter der Werkbank. Auch andere Aufnahmen aus derselben Apple-Zulieferer- Fabrik zeigen: Schlaflager überall da, wo gerade Platz ist. Der Apple-Zulieferer Quanta reagiert nicht auf unsere Interviewanfrage. Denn: Was passiert, wenn ein Arbeiter ablehnt, in die Fabrik zu ziehen?
Aidan Chau von der NGO "China Labour Bulletin" meint, dass sich das die wenigsten Fließbandarbeiter leisten können. "Sie sind auf Leistungsprämien und Übergangsvergütungen angewiesen. Wenn sie nicht in die Fabrik gehen können, haben sie einfach zu wenig Geld. Also werden sie alle zurückkehren wollen." Trotzdem: nach über vier Wochen kommt Unruhe in der Fabrik auf. Arbeiter filmen, wie ihre Kollegen das Fabrikgelände einfach verlassen wollen. Sicherheitskräfte halten sie auf.
Wie lange halten die Arbeiter die Situation noch aus?
Zurück zum Auto-Zulieferer Rheinmetall China. Um die Arbeiter hier bei Laune zu halten, organisiert das Management Spiele und Sport in der Werkshalle. Noch scheint hier die Stimmung gut. "Es kommt dort gut an und das fördert halt die Gemeinschaft", sagt Peter Willemsen, "und sie können sich vorstellen, wenn sie sechs Wochen oder acht Wochen, quasi mit ihrem Mitarbeiter auf engstem Raum zusammenleben, dann haben Sie sich also entweder nachher furchtbar lieb oder gar nicht mehr lieb. Aber meistens ist es halt, dass dann alles ausgesprochen wurde."
Für die Arbeiter sei die Situation nicht lange zumutbar, meint Bettina Schön-Behanzin, die Vize-Präsidentin der Europäischen Handelskammer. Sie selbst ist in der elften Woche in Shanghai im Lockdown. "Wir sind hier streng bewacht. Damit niemand raus geht. Das Tor ist in der Regel geschlossen." Für alle eine Zumutung. Für die nun produzierenden Unternehmen aber auch nicht wirtschaftlich. "Es ist auch so, dass diese 4.000 Unternehmen, dass die eigentlich ein Tropfen auf den heißen Stein sind. Weil es gibt viele, viele tausend Unternehmen hier und insbesondere die kleinen und mittelständischen Zulieferer, die sind noch nicht auf diesen Listen. Das heißt, viele Firmen leiden sehr stark darunter, dass ihnen einfach Vorprodukte fehlen." Chinas verzweifelter Kampf gegen jede einzelne Covid-Infektion. Er führt zu einem Stillstand, der sich letztlich auf die ganze Welt auswirkt.
Autorin: Tamara Anthony, ARD-Studio Peking
Der Weltspiegel Podcast: "Chinas Null-Covid-Politik: Ein Stillstand, der die Welt betrifft." in der ARD-Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt.
Stand: 30.05.2022 09:19 Uhr
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