So., 29.05.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
USA: Abtreibungsdebatte spaltet das Land
Im Juni wird die Zeit zurückgedreht, das befürchten Frauenrechtlerinnen in den USA. Dann wird der konservative Supreme Court wohl in einem Grundsatzurteil, das seit 1973 garantierte Recht auf Abtreibung in den ersten Schwangerschaftswochen kippen. Kerstin Klein trifft die Abtreibungsärztin Jennifer Pepper, die sich schon jetzt auf diesen Moment vorbereitet. Ihre Klink liegt im Bundesstaat Tennessee, der angekündigt hat, Schwangerschaftsabbrüche umgehend zu verbieten.
Hunderte Kilometer entfernt, im liberalen Illinois, baut sie eine neue Klinik auf – einem der wenigen Staaten, der künftig ein sicherer Hafen für Patientinnen sein soll. Den genauen Ort hält sie zurzeit noch geheim. Aber sie ist entschlossen, weiterzumachen. Denn das Recht auf Abtreibung ist ein fundamentales Frauenrecht, sagt sie. Kaum irgendwo zeigt sich die Spaltung der US-Gesellschaft so deutlich und unversöhnlich wie bei diesem Thema.
Was folgt aus dem erwarteten Gerichtsurteil zur Abtreibung?
Es ist früher Morgen, als wir zur Abtreibungsklinik fahren. Lange mussten wir werben, um hier, in Memphis, Tennessee, filmen zu dürfen. Abtreibungen anzubieten ist gefährlich in den USA – die Stimmung: aufgeheizt; zumal jetzt, wo das Supreme Court Urteil erwartet wird. "Choices" – Wahlmöglichkeit heißt die Klinik. Jennifer Pepper leitet sie. "Choices" bietet Abtreibungen an, aber ebenso Geburtshilfe. Die Bedingung für die Dreherlaubnis: Wenn die Patientinnen kommen, müssen wir wieder weg sein – deren Privatsphäre hat Priorität. "Im vergangenen Jahr haben wir fast 4.000 Abtreibungen durchgeführt für Frauen aus dem gesamten Süden der USA. Nicht nur aus Tennessee, auch aus Arkansas, Mississippi, Texas, Louisiana. Es gibt zu wenige Kliniken und schon jetzt müssen Frauen im Süden hunderte Meilen fahren, um eine zu erreichen."
Wenn der Supreme Court das Recht auf Abtreibung wie erwartet kippt, würde sich das noch weiter verschärfen. Diese Klinik dürfte keine Abtreibungen mehr durchführen, das hat der Bundesstaat Tennessee bereits angekündigt. Und Frauen aus dem Süden müssten noch weitere Wege auf sich nehmen. "Das heißt, eine Abtreibung wird teurer und zeitaufwändiger. Das trifft vor allem arme Frauen und schwarze Frauen, die jetzt schon benachteiligt sind. Deren Probleme werden wachsen und es wird für sie sehr viel schwerer, Hilfe zu bekommen."
Jennifer zeigt mir, wie "Choices" sich darauf vorbereitet. Im südlichen Illinois baut die Organisation eine neue Klinik. Denn dort bleiben Abtreibungen auch nach einem Supreme Court Urteil legal. Und von Memphis nach Carbondale, Illinois sind es drei Stunden Autofahrt. "In all diesen Staaten werden Frauen den Zugang zu Abtreibungen verlieren. Unsere neue Klinik wird die südlichste in diesem Teil der USA sein." Doch während "Choices" in Memphis weiter dafür kämpft, dass Frauen selbst entscheiden dürfen, träumen Abtreibungsgegner im Land bereits vom Sieg. Woche für Woche demonstrieren sie hier vor dem Supreme Court in Washington für die Abschaffung des Abtreibungsrechts. Mit dabei: erstaunlich viele junge Frauen. "Abtreibung tötet Kinder", sagt Terrisa Bukovinac. "Wenn man für Gleichheit ist, Gewalt und Diskriminierung ablehnt, dann muss man auch Abtreibung ablehnen. Denn sie ist nichts anders." Und Lauren Handy meint: "Das Leben beginnt mit dem Zeitpunkt der Empfängnis. Jede andere Definition eines Zeitpunkts ist willkürlich."
Ansturm auf Abtreibungskliniken erwartet
Ortswechsel: New York City. Hier treffen wir eine Frau, die bei solchen Sätzen die kalte Wut packt. Merle Hoffman ist eine Ikone der Frauenrechtsbewegung; kämpft seit Jahrzehnten für das Recht auf Abtreibung. Hier mit Megafon in den 80ern. Und auch heute noch mit der gleichen Leidenschaft. "Ich möchte verdammt sein, wenn ich nicht wie verrückt kämpfe. Denn sie berauben die Hälfte der amerikanischen Bürger ihrer von der Verfassung garantierten Rechte. Wo ist der Aufschrei?" Der Kampf für Frauenrechte, für Selbstbestimmung – er hat Merle Beleidigungen und Ärger eingehandelt – bis hin zu Todes-Drohungen.
Und jetzt steht all das Harterkämpfte plötzlich wieder auf dem Spiel. "Ich bin nicht frustriert oder niedergeschlagen, weil ich weiß, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht. Leute fragen mich das die ganze Zeit. Aber ich schaue in den Spiegel und bin mit mir im reinen. Aber ich frage zurück: was tust Du?" Merle gründete eine der ersten Abtreibungskliniken in den USA. Jetzt bereitet sich ihre Klinik auf einen Ansturm vor – denn im liberalen New York bleiben Abtreibungen unabhängig vom Supreme Court Urteil legal. Bis zu 250.000 Frauen jährlich könnten Schätzungen zufolge künftig für den Eingriff in die Stadt reisen. Merles Klinik will daher weitere Ärztinnen einstellen.
Zurück nach Memphis, in den Süden. Den religiösen Bible-Belt. In der Klinik hoffen sie noch, aber sie sind nicht naiv. Sie bereiten sich vor. Wenn Frauen in Zukunft lange Autofahrten und Flugreisen in Kauf nehmen müssen, brauchen sie auch dabei Unterstützung. Jennifer und ihre Organisation "Choices", sammelt jetzt schon Geld – für Tickets, Hotels, Verdienstausfälle. "Wir werden nie aufgeben! Deshalb auch die neue Klinik in Illinois. Wir wollen dort mindestens so vielen Patientinnen helfen, wie hier in Memphis – und hoffentlich sogar noch mehr, denn die Nachfrage wird riesig sein." Doch vorerst sind sie fest entschlossen, hier in Memphis noch so vielen Frauen zu helfen, wie möglich. Und das heißt: Bis zum letzten Tag, an dem Abtreibung hier noch legal ist.
Autorin: Kerstin Klein, ARD-Studio Washington
Stand: 30.05.2022 11:17 Uhr
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