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China: Shanghai im Lockdown

China: Shanghai im Lockdown | Bild: Polaris/ddp / Dave Tacon

'Stimme des Aprils' – Dieses Video verbreitet sich in China für kurze Zeit wie ein Lauffeuer. Auf Drohnenbildern von Shanghai hört man wie Babys von ihren Eltern getrennt werden, Menschen nach Essen schreien und Helfer am Ende ihrer Kräfte sind. Die Verzweiflung einer Stadt. Das hier ist die einzige Chance für Racelle und ihre fünfköpfige Familie sich außerhalb ihrer Wohnung zu bewegen. Statt Fahrstuhl, 14 Stockwerke zu Fuß, einmal am Tag. Sie kommen gerade vom Covid-Test im Hof. Ansonsten sind sie seit sechs Wochen in ihrer 3-Zimmer-Wohnung eingesperrt. Das ist der Blick aus ihrem Fenster. Eine 25 Millionen Stadt in einer Zwangspause. "Es fühlt sich so an, als würden wir für ein Verbrechen bestraft, das wir nicht begangen haben. Hier drin eingesperrt zu sein und nicht an die Sonne und die frische Luft zu kommen. Meine Tochter schreit gerade auf dem Balkon. Sie hat in letzter Zeit viele Wutanfälle", erzählt Racelle.

China: Kinder und Eltern dürfen ihre Wohnungen nur für einen Test im Hof der jeweiligen Wohnanlage verlassen.
China: Kinder und Eltern dürfen ihre Wohnungen nur für einen Test im Hof der jeweiligen Wohnanlage verlassen. | Bild: WDR

Die Kanadierin kocht, backt und organisiert stundenlang Lebensmittel heran, während ihr chinesischer Mann Online-Meetings hat. Der neunjährige Payden macht den ganzen Tag Home Schooling und seine beiden Schwestern toben durch die Wohnung. Aber andere seien viel schlimmer dran als sie. "Eine Teenagerin bei uns die Straße runter hat sich umgebracht, ist einfach aus dem Fenster gesprungen. Und auch im Gebäude gegenüber von uns hat sich letzte Woche ein Mann das Leben genommen."

Shanghai, eine Geisterstadt

Die sonst so quirlige, moderne Megacity Shanghai eine Geisterstadt. China hält eisern an der Null-Covid-Strategie fest. Die vor Tagen versprochenen Lockerungen gibt es de facto nicht. Der Lockdown wird immer wieder verlängert und für viele kam er zudem ohne Vorankündigung. Racelles Sohn hatte einen Freund zu Gast, als ihre Wohnanlage plötzlich abgeriegelt wurde. Neun Tage dauerte es, bis das Kind zu seinen Eltern zurückkonnte. "Die Mutter hat immer wieder angerufen und war so verzweifelt, dass sie ihren Sohn nicht bei sich hat. In den meisten Ländern wäre es illegal und eine Art Kindesmisshandlung, wenn man ein Kind einfach so seinen Eltern vorenthält", sagt Racelle.

China: Die Null-Covid Strategie der Chinesen: Die Wirtschaftsmetropole Shanghai steht seit mehreren Wochen still. 25 Mio Menschen sind im Lockdown.
China: Die Null-Covid Strategie der Chinesen: Die Wirtschaftsmetropole Shanghai steht seit mehreren Wochen still. 25 Mio Menschen sind im Lockdown. | Bild: WDR

Kinder mit Corona, die ohne Eltern im Krankenhaus sein müssen. Solche Videos tauchen immer wieder in chinesischen Chatgruppen auf. Menschen kommen an ihre Grenzen, wie dieser Mann, der ruft: Lasst mich hier raus. Und hier schreit ein Geschäftsmann am Handy: Es ist mir egal. Soll mich die kommunistische Partei doch verhaften. Wo ist sie überhaupt? Wo ist der Kommunismus? Fickt Euch. Was ist mit dem Volk? Die Deutsche Nina Broda lebt seit 2019 hier. Im Moment ist sie viel damit beschäftigt, genügend Lebensmittel heran zu organisieren. Die Preise haben sich vervielfacht. Doch bevor alles ins Haus kommt, wird es desinfiziert und manches später noch mit heißem Wasser abgespült. "Man kann könnte jetzt sagen, ich weiß nicht, ob ich übertreibe oder nicht, aber ich denke, es beschreibt ein bisschen die Angst davor, positiv zu werden, also wie groß die Angst davor ist", sagt Nina. Denn dann ginge es ihr wie dieser Frau. Die gegen ihren Willen in ein Quarantäne-Lager geschleppt wird. Haustiere von positiv Getesteten werden oft in solchen Säcken gesammelt und getötet.

Und Videos aus der Quarantäne zeigen zum Teil prekäre Zustände. Pritsche an Pritsche, Dixiklos und oft keine Duschen. Menschen mit anderen Krankheiten als Corona finden zum Teil keine Hilfe: "I beg you to save my husband. He has late term cancer – Bitte, bitte rettet meinen Mann", wimmert die Frau. Er hat Krebs im Endstadium. "Ein Freund von mir ist Chirurg. Sie hatten einen Patienten mit Knochenbrüchen, aber keine Schrauben mehr und andere Dinge, um den Knochen zu befestigen. Sie haben in ganz Shanghai bei Firmen suchen müssen", sagt die gebürtige Kanadierin.

Die Flucht aus dem Null-Covid-Land

Auspacken in Singapur. Tamara Wagner ist mit Mann und Sohn gerade angekommen. Ihnen ist das fast Unmögliche gelungen, mit Ausnahmegenehmigung und auf Umwegen aus Shanghai zu fliehen. Im Sommer wollten sie das Null-Covid-Land China sowieso verlassen. Der Lockdown in Shanghai hat das Ganze beschleunigt. "Das Problem dann war: Wenn wir einmal aus unserem Haus rausgegangen sind, durften wir durch die Lockdown-Bestimmungen nicht mehr rein. Das heißt, wenn wir rausgegangen wären, der Flug wäre gecancelt worden oder keine Ahnung der PCR Test wär nicht gekommen, wie versprochen, hätten wir nicht fliegen können. Und wir hätten nicht gewusst, wohin, wenn wir nicht mehr nach Hause zurück hätten gehen dürfen", erzählt Tamara. Sie wohnen erstmal möbliert, bis der Hausstand nachgeschickt wird. Bernd Wagners Firma hat sich flexibel gezeigt. Er hat das Privileg, dass er nun von Singapur aus arbeiten kann. Das Leben in Shanghai schien nicht mehr lebenswert. "Für mich war eigentlich der Knackpunkt das, dass ich gesehen habe, dass der Druck auf die Familie zu groß wird und das dann der Preis auch irgendwann zu hoch ist, den die Familie dafür zahlt, dass ich da meinen Job mache."

Zurück in Shanghai. Die Metropole trägt 20 Prozent zur Gesamtwirtschaftsleistung Chinas bei. Der Containerhafen ist der größte der Welt. Aber er operiert nur mit noch halber Kapazität. Es fehlen LKW-Fahrer. Hunderte Schiffe liegen vor der Stadt und Können nicht ent- und beladen werden. Auch Zulieferungen nach Deutschland wie Autoteile, Mikrochips, Fernseher und Handys sind betroffen. "In der Regel, wenn weniger Angebot als Nachfrage besteht, dann steigen die Preise und das hat nicht hat auch nicht nur damit zu tun, dass das ein geringes Angebot besteht, sondern auch, dass die Kosten sich extrem erhöht haben. Das werden auch die deutschen Konsumenten zu spüren bekommen", sagt Maximilian Butek von AKH Shanghai.

Wieder bei Racelle und ihrer Familie. Sie müssen mal wieder zum Testen. Mindestens einmal am Tag. In ihrer Wohnanlage gab es vor drei Tagen einen positiven Fall. Damit verlängert sich die allerstrengste Lockdownstufe automatisch um zwei Wochen. Nicht mal um den Block gehen ist erlaubt. Durchhalten wird immer schwerer. Deshalb hat die Familie für Juni Tickets nach Kanada gebucht. Racelles alte Heimat soll der neue Lebensmittelpunkt werden. Viele Shanghaier versuchen inzwischen im Internet mit Tricks die staatliche Zensur zu überlisten. Sie posten im Akkord Videos über Videos von ihrer Misere. Und abends – da schreien sie in den Häuserschluchten der Stadt ihre Verzweiflung und Panik heraus. Die Wut ist inzwischen bei vielen größer als die Angst vor den Repressalien des chinesischen Machtapparats. Das Video 'Stimme des Aprils' endet übrigens mit einem Spruch, der Mut machen soll: Gute Besserung, Shanghai! Es ist inzwischen in China nicht mehr zu sehen.

Autorin: Sandra Ratzow/ARD Studio Singapur

Stand: 25.04.2022 18:00 Uhr

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