So., 24.04.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Mexiko: Der Limettenkrimi
Wenn abends die Sonne in Yucatán untergeht, kommt die Flinte zum Einsatz. Ein Erbstück von seinem Großvater: Kaliber 20. Die Harrington ist eine Antiquität, aber sie verschafft David Medina Respekt. "Ich brauche die Flinte, um meine Limetten zu beschützen, damit mir nichts geklaut wird", sagt der Bauer. "Ich will aber niemanden umbringen, ich schieße in die Luft, dann rennen sie weg." Seit die Limetten-Preise explodieren, wächst hier ein kleines Vermögen heran – deshalb kommen nachts Diebe. Eine Kiste geklauter Limetten ist so viel wert, dass es für mehrere Tage Essen reicht. "Die kommen mit ihren Rucksäcken, machen sie voll, manchmal kommen sie zu fünft, nehmen mehrere Kisten mit, das entspricht etwa 5.000 Pesos", erzählt David. 230 Euro etwa – das schmerzt, denn der Schaden summiert sich. Also verzichtet Davide mit seinen 76 Jahren auf Schlaf, und lauscht hinein in die Nacht. "Ich bleibe noch ein Weilchen, mal sehen, ob sich etwas rührt oder ich Lärm höre."
Limetten als grünes Gold
Zwei Autostunden weiter: Marcello Avila hat eine Familien-Patrouille organisiert: Vater, Bruder und Neffe bewachen den Acker. Mehrfach haben Diebe schon zugeschlagen – und in ihrer Eile die Ernte des nächsten Monats zerstört. "Sie füllen sich die Klamotten mit Limetten, reißen überall an den Bäumen herum, und morgens sehen wir, dass auch kleine Limetten heruntergefallen sind."
Es ist ein Limettenkrimi, der Mexiko derzeit bewegt. Alles wegen des Preis-Anstiegs. Bauern kämpfen gegen Diebe. Kunden mit hohen Preisen. Ein Kilo kostet Verbraucher drei, viermal so viel wie Ende 2021. Dabei sind Limetten Grund-Nahrungsmittel, 18kg isst jeder Mexikaner pro Jahr – sie sind für jedes Gericht unverzichtbar. "Egal ob Eintöpfe oder Tacos, jedes Essen braucht Limetten", sagt der Taco-Verkäufer, Juan Hernandez. "Normalerweise kaufen wir ein Kilo, aber jetzt nur ein Viertel, weil die Preise so stark gestiegen sind", ergänzt Isabel González.
Den Schreck verarbeiten viele auf Social Media. Limetten als grünes Gold, als Geld-Ersatz. Von der Polizei streng bewacht. Oder statt Verlobungsring. Wer sie habe, sei jedenfalls Millionär. Es ist ein Bündel von Gründen, das zu dem Preisschock führt: das Klima, die Jahreszeit – und: Michoacan. In der Region müsste es überall limettengrün leuchten. Doch Kartelle kämpfen hier gegeneinander, deshalb geben viele Bauern auf. Hipólito Chavez aber nicht, er bietet den Kartellen mit einer Bürgerwehr die Stirn. Und stimmt als Einziger einem Interview zu: "Die anderen haben Angst umgebracht zu werden, wenn sie reden."
Jeder zahle direkt oder über Umwege Schutzgeld, sagt Chavez - für Ernte oder Transport. Die Kartelle verdienen so an den Limetten mit, treiben die Preise. Wer sich weigert zu zahlen, werde bedroht – oder Schlimmeres. "Die töten Unternehmer, mischen sich in die Limettenpreise ein. Sie überfallen einen, schreiben vor, wie viel wir an sie zahlen müssen", erzählt der Limettenbauer. Chavez will weiterkämpfen, schlimmer kann es nicht kommen: "Ich habe einen meiner Söhne verloren – und viele Freunde, die mich im Kampf begleitet haben. Das ist ein Schmerz, der tief sitzt."
Bauern hoffen auf ruhigere Zeiten
Andere Bauern flüchten vor der Gewalt, dem Beschuss. Zurück bleiben zehntausende Bäume – Limetten, die niemand ernten wird, und die auf dem Markt fehlen. Dadurch steigen die Preise. Zurück in Yucatan. Hier müssen sie keine Kartelle, sondern nur Diebe abwehren. Im Vergleich harmlos, sagen die Bauern selbst. Die Polizei unterstützt ihre Wachtrupps. In den vergangenen Wochen hat Polizeichef Nelson Avila die Taktik der Diebe studiert: "Was macht der Dieb? Der geht ja nicht zum Haupteingang rein. Die schlagen sich hier eine Schneise, um aufs Gelände zu kommen."
Avila hofft, dass die Preise bald etwas fallen und sich die Lage in der Gemeinde beruhigt. Derzeit gehen ihm fünf Diebe pro Woche ins Netz, und mit ihnen kiloweise Limetten. "Diese Kiste hier ist geklaut und die Diebe wollen nicht sagen, wer der Besitzer ist. Da haben wir ein Problem, wir können sie nicht zurückgeben", erzählt der Polizeidirektor.
Manche Täter greift die Polizei mehrfach auf. Trotzdem können sie nur wenig tun, zum Unmut der Bauern. "Die geklaute Menge von jedem Einzelnen ist zu klein, um Anklage zu erheben. Deshalb werden die Diebe festgesetzt, 24 oder 36 Stunden. Manche müssen noch irgendwo putzen gehen, damit sie freigelassen werden", sagt Martín Gamboa, Präsident der Landwirtschaftsvereinigung Yucatán. Für Limettenbauer David war diese Nacht ruhig. Damit das so bleibt, hat er einen Schamanen gerufen: Zusammen bringen sie ihren Ahnen eine Opfergabe aus Kräutern. "Wir glauben daran, machen das, damit alles gut läuft. Damit wir ruhiger sind und in Ruhe ernten können." Und damit sich die Preise einpendeln: So dass er genug verdient und bald wieder ruhig schlafen kann.
Autorin: Marie-Kristin Boese/ARD Studio Mexiko
Stand: 24.04.2022 19:50 Uhr
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