So., 19.04.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Deutschland/Syrien: Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht
Nouran al Ghamian erhofft sich ein bisschen Gerechtigkeit, deshalb hat sie sich als Zeugin für den Prozess in Koblenz gemeldet. Ein ungewöhnlicher Prozess, der am 23. April vor dem Oberlandesgericht beginnen wird. Die Angeklagten sind zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter und die Taten, die ihnen vorgeworfen werden, sind auch in Syrien begangen worden. Die zwei mutmaßlichen Täter leben in Deutschland, zur Verhandlung stehen 4.000 Fälle von Folter und die Tötung von 58 Menschen, bzw. Beihilfe zur Folter in 30 Fällen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deshalb kann ein deutsches Gericht darüber verhandeln.
Verhaftung gleich zu Beginn des Aufstands
Sie rufen: "Syrien will Freiheit". Dann passiert’s. Männer in Zivil überwältigen Marwan al-Ghamian. Sie ist die erste Demonstrantin, die zu Beginn des syrischen Aufstands 2011 vom Geheimdienst gefangen genommen wird. Ihre Schwester Nouran al-Ghamian ging damals auch auf die Straße, um Freiheit und Gerechtigkeit zu fordern. Heute lebt sie in Europa. "Für uns Syrer war die Revolution das Größte, was uns im Leben passiert ist. Ich hatte das Gefühl, wenn wir uns jetzt wegducken und zu Hause bleiben, dann haben wir versagt. Dann setzt sich die Ungerechtigkeit des Regimes einfach fort und die Diktatur bleibt noch für Generationen bestehen. Es gab keine andere Wahl als die Revolution."
Die Politik-Studentin, damals Anfang 20, fordert wie hunderttausende Syrerinnen und Syrer Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit. Die Antwort des Regimes kommt mit aller Härte. Der Geheimdienst marschiert auf. Schießt in die Menge. Und inhaftiert Demonstranten. Zwei Monate nach ihrer Schwester wird auch Nouran al-Ghamian bei einer Demonstration abgeführt und in ein Geheimdienstgefängnis verschleppt. "Auf den Fluren lagen Körper mit Folterwunden übersät, aus denen es blutete. Jeden Tag wurden Leichen abtransportiert, die Menschen waren während der Folter umgekommen oder in den überfüllten Zellen erstickt. Es ist wie ein Sarg, in dem täglich Menschen gefoltert werden und sterben. In dem jede Sekunde am Tag Menschen physisch und psychisch leiden."
Vorwurf: Folter und Mord in unzähligen Fällen
Überall in Damaskus hat der syrische Geheimdienstapparat sogenannte "Abteilungen", Orte des Schreckens, mit unterirdischen Gefängniszellen und Folterkammern. Basis des ausgeklügelten Überwachungssystems. Nouran al-Ghamian wird in Abteilung 251 verschleppt: Arbeitsplatz der Angeklagten von Koblenz. Die beiden Spitzel waren auf Oppositionelle angesetzt. Anwar R. soll Chef der Ermittlungen gewesen sein, er muss sich für Folter in 4.000 Fällen und Tötung von 58 Menschen, Eyad. A. für Beihilfe zu Folter in 30 Fällen verantworten. 2014 und 2018 stellten sie in Deutschland Asylanträge. Als sie Syrien verließen, sollen sie sich bereits vom Assad-Regime losgesagt haben.
Unter Exil-Syrern führt der angebliche Seitenwechsel der Angeklagten zu heftigen Diskussionen. Für den syrischen Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni macht das keinen Unterschied. Der Jurist, der international hohes Ansehen genießt, war selbst fünf Jahre in Syrien inhaftiert, für seine Überzeugungen. Jetzt lebt er in Berlin. Auch wenn sich die die beiden Angeklagten von Regime abgewendet hätten – für ihre Taten verantworten müssten sie sich trotzdem. "Verbrecher oder Opfer – sie definieren sich nicht durch ihre politische Haltung. Ein Verbrecher bleibt ein Verbrecher, egal, wie sehr er sich gewandelt hat. Und ein Opfer ist ein Opfer, egal für welche Position es steht. Das Recht ist die Grundlage. Das Recht macht keine Ausnahme."
Ein kleines bischen Gerechtigkeit
Im Geheimdienstgefängnis wurde Nouran al-Ghamian brutal gefoltert. Vor Gericht in Koblenz wird sie dem Mann wieder gegenüberstehen, den sie im Verhör angefleht hatte, ihr wenigstens die Einzelhaft zu ersparen. Und der das verwehrt hatte. Bis heute streitet der syrische Präsident Folter ab. Im Interview wird er nach dem Prozess in Deutschland gegen seine Geheimdienstleute gefragt. "Bei uns wird nicht gefoltert", sagt Bashar al-Assad. "In Syrien gibt es keine Folterpolitik." Dagegen Nouran al-Ghamian: "Die syrischen Gefängnisse basieren auf Folter. Er versucht zu bluffen. Aber die ganze Welt sieht das Gegenteil." Das belegen Dokumente aus Syrien. Eine dringliche vertrauliche Depesche des Nationalen Geheimdiensts von 2011. Der Befehl: Die Straßen und Viertel von Demonstranten zu "säubern". Ein Freibrief für die Geheimdienstleute, um Oppositionelle zu beseitigen.
Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, für das Patrick Kroker arbeitet, hat tausende Fotos – Folteropfer, die ein syrischer Militärfotograf dokumentieren musste. Der Mann mit Decknamen Caesar hatte sich ist mit den Bildern ins Ausland abgesetzt. Weiteres Belastungsmaterial.
"Die Caesar-Fotos sind von unschätzbarem Wert, was die Beweise angeht, die wir brauchen, um diese Verbrechen allgemein darzustellen, das System. Gerade um diesen Überbau zu beweisen, braucht es Beweise dafür, dass es keine Einzelfälle sind. Dass das, was in diesen Gefängnissen stattgefunden haben soll, keine Exzess-Tat ist, von ein paar Leuten, sondern es ist Teil einer Politik, einer Verfolgungspolitik."
Nouran ist dankbar, dass es in Deutschland diesen Prozess gibt. "Endlich werden wir erleben, dass es doch ein kleines bisschen Gerechtigkeit in dieser Welt gibt. Es gibt jemanden, der versucht, Gerechtigkeit für die Unterdrückten zu erreichen. Ich wünsche mir, dass so etwas auch in Syrien passieren wird. Besonders gegen die Menschen, die dort immer noch Verbrechen begehen." Wünsche, von denen Nouran al-Ghamian weiß, dass sie noch lange Wünsche bleiben. Auch deshalb ist es so wichtig, sagt sie, dass Gerichte außerhalb Syriens die Verbrechen in ihrem Land aufklären.
Autoren: Tarek Khello und Tina Fuchs
Stand: 10.06.2020 14:28 Uhr
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