Mo., 18.07.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Frankreich: Nach dem Anschlag von Nizza
Frankreich trauert. Wieder kommen die Menschen in Paris zum Place de la Republique. Wieder wurde die Nation von einem Anschlag erschüttert, dieses Mal am Nationalfeiertag. Die Franzosen sind schockiert und wütend. Sie stellen sich die Frage: "Reichen die Sicherheitsmaßnahmen?"
Hier am Ort, wo sie gemeinsam trauern, macht sich jetzt vor allem Misstrauen gegenüber der Regierung breit, wie eine Frau es beschreibt: "Sie haben uns weismachen wollen, dass wir sicher sind. Aber jetzt fängt alles wieder von vorne an – das denken alle Franzosen. Und nicht nur die, sondern auch die Ausländer, die hier leben. Wir sind mittlerweile soweit, dass hier niemand mehr der Regierung glaubt."
Zweifel an der Strategie
Wir treffen Journalist Nicolas Henin: er war zehn Monate Geisel der Terrormiliz IS. Präsident Hollandes Aufruf, den Einsatz in Syrien und im Irak jetzt erst recht zu verstärken, sei falsch. Er hat die Dschihadisten hautnah erleben müssen, zehn harte Monate lang, bis er zurück zu seiner Familie konnte. Durch Bomben, sagt er, würden sich die Terroristen zu Opfern stilisieren und damit nur noch mehr Zulauf bekommen: "Punktuell hatten sie einen positiven Effekt, aber eben nur oberflächlich. Bomben können nur ein ganz kleiner Teil im Kampf gegen den Terror sein. Terrorismus ist vor allem eine Frage der Ideologie. Und wir müssen die Propaganda der Terroristen bekämpfen."
Von Einheit dieses Mal keine Spur, die Opposition gewährt der Regierung keine Schonfrist. Das ist neu. Der ehemalige Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, kritisierte Hollande scharf. Und auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu den Pariser Anschlägen bemängelt die Maßnahmen der Regierung: "Der Einsatz von 10.000 Militärs zum Schutz sensibler Einrichtungen ist im aktuellen Kontext absolut keine Antwort auf die Realität."
Doch die Regierung hält an ihrem Konzept fest. Auch wenn es absolute Sicherheit für Frankreich nicht geben könne, so Premier Valls: "Wir leben in einer neuen Zeit: Frankreich wird mit dem Terrorismus leben müssen. Doch wir müssen dem geschlossen gegenüber stehen. Das ist die Botschaft des Präsidenten."
Zweifel in der Bevölkerung
Doch kommt diese bei den Menschen noch an? Schriftstellerin Gila Lustiger will keine Parolen, sondern langfristige Lösungen. Sie fordert von der Regierung einen Blick auf die Probleme im eigenen Land. Dass noch immer viele Menschen in den Vororten ausgegrenzt würden, sei auch ihr Versagen: "Es ist an der Erziehung gescheitert. Da ist es am Schulsystem gescheitert. Man muss versuchen, die jungen Leute einzubinden, dass sie sich nicht so leicht rekrutieren lassen. Das ist etwas für die nächsten Jahre und Jahrzehnte, was getan werden muss."
Die Regierung dagegen versucht nun, Reservisten zu mobilisieren. Viele Sicherheitskräfte im Land sind müde und ausgelaugt nach der EM und frustriert nach dem Attentat in Nizza.
Der Held vom Stade de France
Das weiß er nur zu gut: Als Ordner vor dem Stade de France hielt Salim Toorabally im November einen der Attentäter auf, der sich dann neben dem Stadion in die Luft sprengte. Auch während der EM sorgte Toorabally wochenlang für Sicherheit – für viele ein Held in Frankreich. Eine Frau bedankt sich bei ihm: "Im Namen aller Franzosen, vielen Dank!" Salim Toorabally: "Ich war so erleichtert nach der EM. Und dann kam das Attentat in Nizza. Im November im Bataclan wurde mit Kalaschnikows geschossen und das, was jetzt passiert ist, hätte sich keiner vorstellen können."
Auch wenn die Hintergründe von Nizza noch immer nicht klar sind, wird das Attentat im Land als Terroranschlag empfunden. Und viele teilen die Meinung, dass Bomben und Sicherheitskräfte allein nicht weiterhelfen. Politiker und Bürger in Frankreich müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Jugendliche nirgendwo ausgegrenzt werden.
Autoren: Philipp Giltz / Katja Petrovic, ARD Paris
Stand: 12.07.2019 07:42 Uhr
Kommentare