Mo., 18.07.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Die Armee und der Putschversuch
Chaos und Zerstörung: Das türkische Parlament nach dem Putschversuch. F-16-Kampfjets und Militärhubschrauber haben das Gebäude massiv verwüstet. Mustafa Yeneroglu zeigt sich immer noch erschüttert über die Vorgänge in der Nacht von Freitag auf Samstag. Der in Deutschland aufgewachsene Abgeordnete der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP war gemeinsam mit vielen anderen Abgeordneten während der Angriffe im Parlament bei einer Sondersitzung: "Während der Rede des Parlamentspräsidenten gab es erste Bombeneinschläge. Wir sind aber sitzen geblieben. Wir waren uns darüber einig, dass wir das Parlamentsgebäude schützen müssen. Hier in diesem Bereich hat man von außen insbesondere mit Maschinengewehren… Ich sehe man hat hier auf der Außenseite sehr, sehr viele Einschusslöcher. Das ist der Bereich, wo der Ministerpräsident normalerweise sitzt, wenn er ins Parlament kommt."
"Von einer Organisation unterwandert"
Yeneroglu sagt, Teile des Militärs und der Justiz in der Türkei seien von einer Organisation unterwandert, die Präsident Erdogan absetzen wolle. Die türkische Regierung wüsste das seit einiger Zeit und hatte vor, im August in beiden Institutionen illoyales Personal auszutauschen: "Es gab Vorbereitungen jetzt für den August, nicht nur im Bereich der Justiz, sondern auch im Bereich der Militärs. Viele Generäle hätten ausgetauscht werden sollen, weil sie eben als Teil dieser Strukturen ausgemacht wurden. Und entsprechend gab es Vorbereitungen auf diese Aktionen. Dem wollten die Militärs gemeinsam auch mit Teilen der Bürokratie und der Justiz zuvorkommen."
Die Rolle der Gülen-Bewegung
Kopf der Anti-Erdogan-Organisation sei Fetullah Gülen, ein islamisch-konservativer Prediger, der in den USA im Exil lebt. Lange Zeit waren er und Erdogan Weggefährten. Hier das großzügige Anwesen des Predigers in Pennsylvania. Inzwischen nennt der türkische Staatspräsident die Gülen-Bewegung eine Terrororganisation, die nichts anderes wolle, als ihn zu stürzen.
Aydin Engin, stellvertretender Chefredakteur der linksliberalen und Erdogan kritischen Cumhuriyet Tageszeitung bestätigt den Einfluss der Gülen-Bewegung im Militär: "Gülen sagte bereits in den 70er Jahren, dass es nicht so wichtig sei, jeden Tag in die Moschee zu gehen oder Kopftuch zu tragen. Es sei wesentlich wichtiger, einen guten Schulabschluss zu machen und studieren zu können, damit Gülen-Anhänger im Staatsapparat, also in der Finanzverwaltung, der Justiz und der Armee vertreten sind. Das hat die Gülen-Bewegung auch geschafft, insbesondere in Justiz und Armee."
Eine Serie von Putschen
Staatsstreiche ziehen sich durch die Geschichte der türkischen Republik. In den 60er, 70er und 80er Jahren putschte die Armee erfolgreich gegen die jeweiligen Regierungen. Die obersten Militärs verstanden sich stets als Hüter der kemalistischen Verfassung und der Trennung von Staat und Religion.
Aus Sicht des Cumhuriyet-Journalisten war der Putschversuch vom Freitag keine Inszenierung, wie Fetullah Gülen dem türkischen Staatspräsidenten inzwischen vorwirft. Allerdings sei der versuchte Staatsstreich dilettantisch und naiv gewesen: "Sie haben versucht, mit den Mitteln des vorherigen Jahrhunderts einen Putsch im 21. Jahrhundert durchzuführen. Es reicht aber nicht, einfach nur das Staatsfernsehen zu besetzen. Sie haben die Macht der sozialen Medien unterschätzt."
So ließ Erdogan an alle türkischen Mobiltelefone diese Textnachricht schicken. Darin der Aufruf gegen das Militär durch Demonstrationen Widerstand zu leisten. Als sich Erdogan versteckt hielt und vorübergehend keine Möglichkeit hatte, im Fernsehen eine Ansprache zu halten, nutzte er sein Mobiltelefon, um ein Interview zu geben. Auch darin rief er zum Protest auf den Straßen auf.
Erdogan-Anhänger auf die Straße!
So stellten sich Erdogans Anhänger zu Zehntausenden den putschenden Soldaten entgegen. Schließlich gaben sich diese geschlagen. Auch der Zeitpunkt soll offenbar falsch gewählt worden sein, meint Aydin Engin: "Die Putschisten haben Fehler gemacht, die nicht einmal kleine Kinder machen würden. Man macht doch keinen Staatsstreich am Abend, wenn alle noch wach sind. Wenn man putscht, dann um drei Uhr morgens!"
So hat die missglückte Aktion neben vielen Opfern vor allem einen Effekt. Erdogan wurde dadurch ein weiteres Mal gestärkt. Er kann nun ohne Widerstand den türkischen Staat nach seinen Vorstellungen umbauen.
Der AKP Mann Yeneroglu geht davon aus, dass die Gefahr eines weiteren Putsches durch das Militär auf längere Zeit gebannt ist: "Diese Gruppe wusste, dass das ihre letzte Möglichkeit ist, sich am Leben zu halten, sich in den Strukturen der Türkei als Parallelstruktur zu etablieren. Wir haben dafür viele Säuberungsaktionen gehabt. Wir wussten aber nach wie vor, dass insbesondere in der Justiz, in der höheren Bürokratie und auch im Militär quasi Schläfer-Strukturen noch drin waren."
Der Schaden durch den missglückten Staatsstreich ist für die Türkei massiv. Erdogans Anhänger und seine Gegner sind sich in diesem Punkt einig.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 12.07.2019 07:42 Uhr
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