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Gaza: Domizid durch die israelische Armee?

Gaza: Domizid durch die israelische Armee?  | Bild: SWR

Bei systematischer Zerstörung von Wohnraum und ziviler Infrastruktur sprechen die Vereinten Nationen von einem „Domizid“. Viele Experten bezweifeln, dass die israelische Armee im Gazastreifen angemessen vorgeht. Denn mit ihren massiven Bombardierungen zerstört sie eben nicht nur die Tunnel der Hamas. Die Bomben bringen auch tausende Wohnhäuser zum Einsturz – das ist gelegentlich offenbar beabsichtigt. Laut Untersuchungen der Oregon State University sind inzwischen über 55 Prozent aller Häuser in Gaza schwer beschädigt oder komplett zerstört. Zwei Millionen Menschen sind derzeit obdachlos.

Khan Younis: Zurück im zerstörten Haus

Anfang April in Khan Younis, Südgaza. Die israelische Armee ist abgezogen. Endlich können sie zurück. Muhammad und seine Kinder können nach Hause. Aber davon ist fast nichts übrig. "Schau, das war mein Haus", sagt Muhammad. "Es hatte vier Stockwerke und es war eines der schönsten Häuser hier. Die Nachbarn könnten es bezeugen." Muhammad und seine Kinder wühlen jetzt in dem, was mal ihr Zuhause war. Keiner hier hat die Kapazitäten zu überprüfen, ob es überhaupt sicher ist, was sie hier tun. Murad sucht nach seinen Büchern. Doch das Ziel der Familie ist größer: sie wollen wieder hier wohnen. Wir begleiten sie. Schaffen sie es, sich hier wieder etwas aufzubauen? "Ich weiß nicht genau, wo ich hier ein Zelt aufstellen kann. Die Situation ist sehr schwierig."

Kind sitzt mit Schulbuch in Trümmern
Nur ein Schulbuch kann gerettet werden | Bild: SWR

Die Kinder suchen auch nach Sachen, die noch verwendbar sind. Nach einem Teppich oder Vorhang, um die Wand des letzten bewohnbaren Raums abzuhängen. Der 10-jährige Murad hatte bisher wenig Erfolg. "Ich habe nach meinen Klamotten und meinen Büchern gesucht. Aber ich habe nur eine Tasche gefunden und Unterwäsche. Mein Schrank mit Kleidung ist verschwunden. Ich vermisse meine Freunde, die Schule, das große neue Haus mit vier Stockwerken. Meine ganze Kindheit ist weg." Doch dann landet seine Schwester einen Treffer: Ein altes Schulbuch. Zeit für eine Pause im ehemaligen Wohnzimmer. Auf dem Handy holen sie sich die Vergangenheit für einen kurzen Moment zurück. Die Mutter ist schon vor dem Krieg gestorben. Das Video zeigt ihr letztes gemeinsames Ramadanfest vor dem Krieg. Damals dekorierten sie das Haus, auf das sie so stolz waren. Heute müssen sie ihr Essen über offenem Feuer kochen.

Der Vorwurf: Systematische und großflächige Zerstörungen

Einige Experten sagen, dass es sich bei der Zerstörung um mehr als ein Nebenprodukt des Kriegs handelt. Die UN spricht von Domizid. Also der systematischen und großflächigen Zerstörung von Wohnungen und ziviler Infrastruktur. Wir werden die Familie wieder treffen und schauen, was sie aus der Zerstörung gemacht haben. In der Zwischenzeit wollen wir herausfinden, was dran ist, an dem Vorwurf Domizid. Denn solche Vorher-Nachher-Bilder gibt es fast im ganzen Gazastreifen. Wir fragen nach bei ihm. Die Recherchen des israelischen Journalisten Meron Rapoport und seiner Kollegen enthüllen: zu Kriegsbeginn seien zehntausende sogenannter Terrorziele errechnet worden. Von Künstlicher Intelligenz. Die Ziele hätten Soldaten dann nicht sorgfältig überprüft. "Hochrangige Quellen, die mit uns gesprochen haben, sprachen von etwa 20 Sekunden, die ein Soldat hatte, um zu sagen, ja oder nein, er ist ein Terrorist."

Luftaufnahme zerstörte Häuser im Gazastreifen
Trümmerlandschaft in Gaza | Bild: SWR

Es kam zu einer nie dagewesenen Anzahl an Luftangriffen, mit enormer Zerstörungskraft. Auch mit dem Versuch, die Tunnel der Hamas zu zerstören, die eine besondere militärische Herausforderung darstellen. Prof. Martin Coward, Experte für Domizid, ordnet das für uns ein. "Das Problem bei dieser Munition ist aber, dass sie einen sehr großen Explosionsradius hat und die städtische Struktur zerstört. Häuser und alles andere in der Umgebung wird zerstört. Jetzt ist die eigentliche Frage, ob diese Zerstörung im Verhältnis zum Ziel angemessen ist." Recherchen des Teams von Rapoport zeigen einen weiteren Aspekt. Demnach wurden Gebäude, die keinen militärischen Zweck erfüllen von Künstlicher Intelligenz zum Ziel gemacht. Die Absicht: die Bevölkerung schockieren und damit den zivilen Druck auf die Hamas erhöhen.

Zurück in Khan Younis, einen Monat später. Muhammad will uns unbedingt den Fortschritt am Haus zeigen. Auf dem Weg dorthin führt er uns durch sein altes Viertel. "Das ist die Familie Abu Khater, drei Familien, viele von ihnen sind tot. Und ihr seht ja, das Haus ist nicht bewohnbar, weil die Hälfte der Rückseite zerstört ist." An fast jedem Haus bleibt Muhammad stehen und erklärt, wer nicht mehr lebt, wer nicht zurückkehren kann und grüßt die, die wie er versuchen, zurückzukehren.

Hoffnung auf Frieden und Wiederaufbau

Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ist horrend. Über 55% der Gebäude sollen beschädigt oder zerstört sein laut einer Analyse der Oregon State University. Die haben Satellitenbilder wie diese hier ausgewertet. Fast die komplette Bevölkerung Gazas, mehr als zwei Millionen Menschen, sind aktuell obdachlos. Alles, was du dir vorstellen kannst, gab es hier", sagt Muhammad. "Möbelgeschäfte, Zahnarzt, Mechanikwerkstatt, Reparaturdienst, Supermärkte." Was Muhammad uns da zeigt, ist für manche Experten mehr als ein Domizid. Urbizid beschreibe es besser. "Zuhause ist mehr als nur die vier Wände um einen herum", sagt Martin Coward von der Queen Mary Universität in London. "Zuhause ist, wie man dieses beheizt. Es ist die Art und Weise, wie man einkaufen geht. Es ist die Art und Weise, wie Kinder zur Schule gehen, oder die Tatsache, dass Sie ein Krankenhaus in der Nähe haben."

Einfach den Wasserhahn aufdrehen, im eigenen Zuhause, das ist für Muhammad nur noch eine ferne Erinnerung. Gleich sehen wir, wie ihr Haus jetzt hergerichtet ist. Ein Teil der Zerstörung ist auch entstanden aus Wut und Rache von Einzelnen, wie diese, von israelischen Soldaten aufgezeichneten Videos zeigen: "Diese Terroristen sind in unser Land gekommen und haben viele ermordet, die mir persönlich sehr nahestanden. Als Antwort, zerstören wir jetzt ihre Häuser. Lang lebe Israel."

Vater mit mehreren Kindern schauen auf Smartphone
Die Familie von Muhammad hat noch einen Raum im zerstörten Haus  | Bild: SWR

Muhammad ist am Haus angekommen. Der Moment der Wahrheit: Wie sieht es jetzt innen aus? Hier konnten wir unseren Unterschlupf schließen und unsere Kinder mit den bescheidensten Mitteln schützen, wie mit diesem Vorhang, den wir aus den Trümmern gezogen haben." Die Familie hat jetzt wieder einen Raum. Ganz für sich, mit Privatsphäre. Und sogar genügend Ruhe, damit die große Tochter ihren kleinen Geschwistern das Alphabet beibringen kann. "Ja, es ist kein richtiges Haus und kein angemessener Wohnort, aber in meinen Augen sieht es aus wie ein Schloss. Ich habe wirklich hart daran gearbeitet." Ob sie das Haus jemals wieder richtig aufbauen können, ist unklar. Aber klar ist, sie wollen hierbleiben. Hier sind ihre Wurzeln – und das Grab ihrer Ehefrau und Mutter. Ihr Grab ist nicht weit vom Haus entfernt. Aber auch dieses wurde durch israelische Panzer zerstört, die über die Gräber gefahren sind. Muhammad musste die Überreste seiner Frau erneut begraben. Doch die Familie blickt nach vorn. Hofft auf Frieden und Wiederaufbau.

Autorin: Hanna Resch, ARD-Studio Tel Aviv

Der Weltspiegel Podcast beschäftigt sich auch mit diesem Thema. Joana Jäschke im Gespräch mit Hanna Resch und Jan-Christoph Kitzler. Redaktion: Steffi Fetz. Zu hören in der ARD-Mediathek und überall, wo es Podcasts gibt.

Stand: 13.05.2024 16:37 Uhr

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