So., 01.07.18 | 19:20 Uhr
Das Erste
Georgien: Die tägliche Mutprobe
Frühstück für die Kinder, neues Brot wird von der Oma im Holzofen gebacken. Es muss schnell gehen, wenn sich Nana morgens auf den Weg zur Arbeit macht. Um das Neugeborene kümmern sich die älteren Geschwister, denn um Sieben muss Nana los zur Arbeit. Auch um die Kuh der Familie kümmern sich die Kinder: Nana ist erst abends um sechs zurück.
Mit alter Seilbahn ins Tal
"Ich wache morgens müde auf und gehe schon müde zur Arbeit", so Nana. Nana wohnt in einem Bergdorf, und wie für alle hier gibt es nur einen Weg ins Tal: Die alte Seilbahn. Ein Auto besitzt so gut wie niemand hier, wie auch: Nana verdient umgerechnet 140,- Euro im Monat. Die alte Seilbahn dagegen ist kostenlos, mit ihr fahren sie zur Arbeit, zum Arzt, zum Einkaufen. Betrieben wird sie vom einzigen großen Arbeitgeber des kleinen Städtchens Chiatura: Der Bergbau-Gesellschaft. Die Kumpel sollen so pünktlich zu den zahlreichen Manganerz-Schächten der Stadt gebracht werden.
Sechsundzwanzig solcher Seilbahnen verbanden in der Blütezeit des Mangan-Erz-Abbaus die Dörfer rund um Chiatura. Heute sind gerade einmal elf übrig geblieben, und ihr Zustand spiegelt den Verfall des Unternehmens und damit der Stadt.
Die Talstation im Zentrum. Von morgens um sieben bis nachts um eins kommen die Kabinen im Zehn-Minutentakt, ohne sie wäre die Stadt nicht lebensfähig. Regelmäßige Wartung, neue Haltetrosse – Georgij, der Cheftechniker der Bergbaufirma, betont immer wieder, dass es hier noch nie einen schweren Unfall gab.
Derart ermutigt verlieren die Kabinen aus den 50er Jahren bald ihren Schrecken. Diese Frauen kamen zum Einkaufen ins Tal, aber auch der Weg zum Kindergarten und in die Schule führt über die Seilbahn. Könnte sie hier ohne leben? "Nein, nein. Unmöglich."
Zeitreise in die Technik der Sowjetunion
Zu beiden Seiten ist Chiatura umgeben von steilen Hängen, ein Großteil der Einwohner lebt daher hier oben in den Bergen. Die Bergstation bietet eine Zeitreise in die Technik der Sowjetunion. Nur die Stahltrossen sind vor kurzer Zeit ausgetauscht worden. Alles andere tut seit Jahrzehnten seinen Dienst, sagt Georgij. Nur einmal blieb eine Gondel zwölf Stunden lang stecken, zu Schaden kam aber niemand. Diese Anzeige überwacht die Position der Gondel. Beim ersten Widerstand löst sie ein Klingeln aus, erklärt Georgij, beim zweiten stoppt die Mechanik automatisch den Motor – falls der Mensch daneben einmal nicht aufpasst.
Maschinistin Elissó steuert mit Gottvertrauen, Konzentration und viel Routine die Kabine zentimetergenau zum Bahnsteig – für einen Tageslohn von weniger als zehn Euro.
Nur noch sieben der einst fünfzig Last-Seilbahnen bringen das gewonnene Manganerz zur Weiterverarbeitung. Längst vorbei die Zeiten, in denen das kleine Chiatura noch die Hälfte des weltweiten Mangan-Exports stellte. Inzwischen sind die hochwertigen Vorkommen hier beinahe erschöpft, es wird kaum noch investiert. Entsprechend veraltet und heruntergekommen wirken die Anlagen auf uns.
Kaum Bergarbeiter mehr
Museumsreife Lastwagen, aber auch in den Schächten arbeiten die Bergleute unter lebensgefährlichen Bedingungen. Es gibt ständig tödliche Unfälle – und Streiks: Proteste gegen die ärmlichen Löhne. Mit dem Bergbau stirbt auch das Städtchen langsam: Das fröhliche Lachen der Frauen überdeckt, wie viele hier jeden Lari umdrehen müssen, um zu überleben. Sie warten auf die Rente. Die georgische Sonne vergoldet die Armut und macht sie zur pittoresken Szenerie. Hier wohnten früher fast ausnahmslos Bergarbeiter, sie hatten ihre eigene Seilbahn hoch zu den Schächten im Berg.
"Leben hier noch viele Kumpel", fragt Udo Lielischkies. "Nein, nur er ist einer", antwortet ein Einwohner. "Warum so wenige? Das ist doch so nah?""Die wollen nicht".
Nanas Mann Gela arbeitet als Sprengmeister im Bergbau, Monatsgehalt 350 Euro. Das Geld reicht gerade für Lebensmittel und das Nötigste. Auch am Markt eine stillgelegte Seilbahn, Symbol für den Abstieg der Stadt. Wer zurechtkommen will braucht einen Garten, eigene Tiere.
Ohne die Seilbahn wäre es schwer
Wir merken schnell, dass Nana und Gela nur die billigsten Produkte kaufen: Ihr älterer Sohn soll studieren, in der Hauptstadt Tiflis, um Chiatura zu entkommen. Dafür verzichten sie gerne, meint Gela. "Mein Leben war nie einfach, besser als jetzt. Nur meine Kindheit, ja die war schön", erzählt Gela. Und dann passiert ein kleines Wunder: Gela hat den Grill angezündet, wir sind eingeladen. Im Boden des Gartens lagert der Weinvorrat der Familie. Gelas Vater hat diese mit Lehm versiegelten Tanks angelegt, nach georgischer Tradition. Dreihundert Liter fasst jeder Behälter, es ist sein eigener Wein.
Die Großmutter macht als Letztes noch Hadschipuri, Brot mit Käse gefüllt, alles andere steht schon auf dem Tisch. Ja, gibt Gela zu: Eigentlich sind sie auch ohne Geld recht glücklich. "Ja, nur ohne die Seilbahn wäre es schwer".
Auch wir nehmen die Seilbahn für den Weg nachhause. Solange sie noch fährt, denken wir uns, wird das Leben hier irgendwie weiter gehen...
Autor: Udo Lielischkies / ARD Studio Moskau
Stand: 02.07.2018 08:47 Uhr
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