So., 20.10.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Großbritannien: 5000 Häftlinge profitieren von Gefängniskrise
Es sind Zustände, die an viktorianische Zeiten erinnern: Ratten, Kakerlaken, ständige Gewalt und dramatischer Personalmangel: Die Verhältnisse in den allermeisten britischen Gefängnissen sind katastrophal. Die Häftlinge: 23 Stunden pro Tag eingesperrt in ihren Zellen, weil es nicht genug Sicherheitskräfte gibt. Und: die Gefängnisse sind derart überfüllt, dass die britische Regierung bis Ende Oktober mehr als 5000 Gefangene frühzeitig entlassen muss – Zustände, die der neue britische Premierminister von den Tories geerbt hat.
Freude in den Gefängnissen?
Und so knallten jetzt Sektkorken vor britischen Gefängnistoren. Aber, gibt es hier draußen mehr Personal, um sie zu betreuen? Oder müssen die Briten sich auf eine neue Welle der Kriminalität einstellen?
Wir treffen Jack in Birmingham. Er ist seit dem 25. September wieder auf freiem Fuß, nach 22 Monaten. Eigentlich hätte er vier Jahre absitzen müssen, wegen Drogenhandels. Mit der Entlassung wurde ihm ein Zimmer in einer Gegend zugewiesen, die für ihre gewalttätigen Gangs bekannt ist. Dann gab‘s noch 80 Pfund auf die Hand und das wars, erzählt er uns. Ab und zu kommen Bewährungshelfer vorbei, ansonsten fehlt es am nötigsten. Aber Jack hat noch ein ganz anderes Problem: „Ich darf laut Bewährungsauflagen keine Kriminellen treffen. Und hier ich sitze neben einem. Sie haben mich in ein Haus gesteckt, das voll ist mit Kriminellen.“
Draußen auf der Straße begegnen wir Stephen. Er hat es geschafft, seit fünf Jahren hat er kein Gefängnis mehr von innen gesehen, erzählt er mir. Diejenigen, die in den letzten Wochen vorzeitig entlassen wurden, beneidet er nicht: „Sie haben hier zwar eine Unterkunft, aber sie bekommen darüber hinaus so gut wie keine Unterstützung. Viele dürfen ihre Familien nicht sehen, weil ihre Verwandten selbst Kriminelle sind. Und: Sie bekommen keinerlei psychologische Hilfe, die sie aber dringend bräuchten. Und damit sind sie dann ganz schnell wieder drin.“
Hilfe – aber nicht vom Staat
Wer sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, hat kaum eine Chance im Großbritannien dieser Tage. Und doch: es gibt effiziente Hilfe, wenn auch nicht vom Staat. Alasdair Jackson ist der Chef einer Charity, die Ex-Häftlinge auf einem Recyclinghof beschäftigt und sie hier auf ein normales Arbeitsleben vorbereitet. Sein Team besteht aus Sozialarbeitern und Psychologen, die sich um knapp 300 Ex-Häftlinge pro Jahr kümmern – ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein erfolgreicher. Alasdair hat so erreicht, dass nur fünf Prozent seiner Ex-Häftlinge wieder rückfällig werden, während die Quote in ganz Großbritannien bei fast 50 Prozent liegt. Alasdair ist sich sicher, dass man das auch landesweit erreichen könnte, wenn die Regierung in London das Problem jetzt ernsthaft angeht.
Bis dahin werden viele der jetzt vorzeitig entlassenen Ex-Häftlinge auf der Straße landen. Und selbst Jack, der zwar ein Zimmer hat, wäre lieber im Gefängnis geblieben, dort fühlte er sich sicherer als hier in der Freiheit.
Eine dauerhafte Entlastung der Haftanstalten wird so kaum gelingen. Ohne echte Reformen wird sich die britische Gefängniskrise nur immer weiter zuspitzen.
Autorin: Annette Dittert, ARD London
Stand: 20.10.2024 20:11 Uhr
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