Mo., 17.08.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Kindesmissbrauch durch Politik und Prominenz?
Das Rascheln der Blätter, die Luft, die Natur. Dann kehren sie zurück: Bilder, Erinnerungen an einen Wald. Immer wieder wurde Esther Baker dorthin gebracht, hingeschleppt, um missbraucht zu werden: "Es war Vergewaltigung ... Es war Folter. Sie haben gemacht, was sie wollten. Dann höre ich manche Geräusche und Stimmen – und alles kommt wieder hoch: ich bin wieder ein Kind, wieder in dieser Situation."
Als es geschah, war Esther gerade mal sechs Jahre alt, erinnert sie sich. Und dann immer wieder, regelmäßig, von mehreren Männern. Einer soll ein Abgeordneter gewesen sein aus ihrer Heimat bei Birmingham. Manchmal wollte er, dass sie Klavier spielt, berührte sie dabei, offenbar geduldet von ihrem Vater und gedeckt von der Polizei: "Ich habe häufiger versucht zu fliehen. Ich erinnere mich, wie ich abgefangen wurde und zu ihnen zurückgebracht wurde, von einem Polizisten."
Die Täter wurden von der Polizei gedeckt
Ein Pädophilenring: unter den Tätern auch Politiker, von der Polizei gedeckt. Es ist sind unglaubliche Anschuldigungen. Aber nicht die ersten, die Marc Watts von der Investigativplattform Exaro zu hören bekommt. Esther Baker hat ihn um Hilfe gebeten. Die Plattform recherchiert zum immer größer werdenden Missbrauchsskandal. Marc Watts erinnert sich: "Das Netzwerk an Pädophilen, über das Esther spricht, war eigentlich eher lokal begrenzt, also nicht in London. Aber es gab auch Überlappungen mit Londoner Politikern, es gab regelrechte Verbindungen: Opfer wurden ausgetauscht zwischen den Pädophilenringen, die sich auch an Esther vergriffen."
Möglicherweise wurde Esther Baker auch an diesen Ort geschleppt, nicht weit entfernt vom britischen Parlament: Der Apartmentkomplex Dolphin Square. Viele Abgeordnete haben hier ihren Londoner Wohnsitz. Regelrechte Missbrauchsorgien sollen in den 80ern hier und andernorts stattgefunden haben. 200 Kinder sind in dieser Zeit verschwunden. Einige sollen bei Sexspielen umgebracht worden sein. "Einer der Tatorte stand eine Zeit lang im polizeilichen Visier. Und gerade als die ermittelnden Polizisten dabei waren, diesen Ring aufzudecken, wurden die Ermittlung von oben gestoppt", erzählt Marc Watts.
Aufarbeitung wird untergraben
Aufarbeitung verhindert, Akten verschwinden, Zeugen verstummen – Jahre lang. Erst peu à peu kommt der Westminster-Pädophilenring ans Licht. Das dreckige Spiel des Machtmissbrauchs zwischen Politik, Geheimdienst, Polizei. Der Abgeordnete John Mann kennt die Gerüchte seit langem: "Man konnte das spüren: Menschen wurden bedroht, eingeschüchtert. Wir haben der Polizei von einem Mord berichtet, der direkt damit in Verbindung stand. Und vier Jahre später noch ein weiterer. Wir hatten Beweise, Videobeweise. Das war eine große Sache. Das war organisiertes Verbrechen." Aber nichts geschah. John Mann hat nicht aufgeben. Gerade erst hat er eine Liste mit 20 Verdächtigen an die Polizei weitergegeben, darunter namenhafte Politiker.
Gedenken an die Opfer
Gemeinsam mit Hilfsorganisationen, gedenkt er der Missbrauchsopfer direkt gegenüber vom Parlament. Eine Mahnung an die dort drinnen. "Ich sehe Menschen, die ins Parlament reinspazieren, die eigentlich ins Gefängnis gehören. Und hier draußen sind Leute, die das wissen. Und es gibt Opfer hier draußen. Und Eltern, die nicht wissen, warum sich ihr Kind umgebracht hat, verschwunden ist.", sagt uns John Mann.
Die meisten Politiker aber, die bislang öffentlich mit Missbrauch in Verbindung gebracht wurden, sind längst verstorben. Sie können nicht mehr belangt werden. Oder sie sind alt und dement wie Lord Janner. Seit den 80ern wird ihm vorgeworfen, sich an mehreren Jungen vergangen zu haben. Erst seit Freitag muss er sich vor Gericht verantworten. Auch eine unabhängige Kommission wurde nun von der britischen Regierung einberufen: Sie soll den sich häufenden Anklagen auf den Grund gehen – späte Aufarbeitung.
Und ob die Kommission jetzt wirklich Aufklärung bringt? Für Missbrauchsopfer wie Esther Baker wäre es eine kleine Genugtuung nach all dem Schmerz: "Ich wünsche mir, dass diese Menschen niemanden mehr verletzen können, dass andere vor ihnen bewahrt werden."
Vor ein paar Tagen wurde nun tatsächlich einer ihrer mutmaßlichen Schänder festgenommen, aber viele mehr bleiben immer noch unbestraft.
Autorin: Julie Kurz, ARD London
Stand: 09.07.2019 03:49 Uhr
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