Mo., 17.08.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Ukraine: Verzweifelt gegen die Staatspleite
Not macht erfinderisch. Die Röntgenkamera lässt sich nicht mehr bewegen. Damit die Aufnahme gelingt, muss die Patientin klettern. Sie hat Glück, mit einem gebrochenen Bein wäre das schwierig. 33 Jahre alt ist das Gerät. Doktor Stepan Malaniuk verzweifelt regelmäßig daran.
Stepan Malaniuk, Röntgenarzt, Krankenhaus Yavoriv: "Wann ein neues Gerät kommt – tja das weiß niemand. Wir frickeln irgendwie die ganze Zeit daran rum. Nach Tagen, nach Monaten sagt man uns: 'Kein Geld, kein Geld, kein Geld!' Ja, unsere Arbeitsbedingungen sind absurd. Wir machen Extremsport. Was soll ich noch sagen?"
Das Gehalt des Radiologen: 80 Euro
Als Röntgenarzt verdient Malaniuk 80 Euro im Monat. Mit Galgenhumor erträgt er seine Arbeit. Aufnahmen von der Wirbelsäule – geht nicht; vom Beckenboden – auch nicht. Nicht mal die Milch als Kontrastmittel gibt der Staat dem Krankenhaus noch.
Stepan Malaniuk, Röntgenarzt, Krankenhaus Yavoriv: "Wir haben deswegen Beschwerden geschrieben. Das brachte gar nichts. Uns wurde gesagt: 'Seid dankbar dass Ihr noch Euer Gehalt habt.' Und tschüss!"
Das Endoskop ist noch das modernste Gerät im Zentralkrankenhaus. Eine Spende der japanischen Regierung. Aber es kam nie vollständig an. Der Lieferant betrog das Krankenhaus. "Wir haben hier nichts", sagt Doktor Mykhailo Dmytriv später mit Wut im Bauch.
Mykhailo Dmytriv, Arzt Krankenhaus Yavoriv: "Eine Computertomographie – das ist im Westen so normal wie eine Blutuntersuchung, aber für uns ein unerreichbarer Traum!"
Leere Medikamentenschränke
Der Medizinschrank im Schwesternzimmer: leer. Schwerverletzte müssen auf Tragen über die Treppe transportiert werden. Einen Fahrstuhl gibt es nicht.
Ukrainer leben durchschnittlich elf Jahre weniger als andere Europäer. Die Bevölkerung schrumpft – und zwar dramatisch. Der Hauptgrund: Das schlechte Gesundheitssystem. Ineffizient und korrupt, sagt Mykhailo Dmytriv. Genau dagegen ging er doch auf den Maidan, demonstrierte, rettete Menschenleben.
Mykhailo Dmytriv: "Die Ukraine ist desillusioniert. Bis die oberen Etagen nicht ausgewechselt sind, wird sich nichts verändern. Ein korrupter Manager wird niemals ehrlich werden."
Streik bei den Bergarbeitern
Nur ein paar Kilometer von der EU entfernt: Das Kohlebergwerk von Novovolynsk. Dreieinhalb Monate haben die Arbeiter keinen Lohn bekommen vom Staat. Die Stimmung: explosiv. Draußen versammeln sich die Kumpel, stimmen ab und fangen einen Streik an. "Wieso kauft der Staat Kohle aus Südafrika“, fragen sie sich, "und zahlt unsere Löhne nicht? Es ist absurd."
Ein Arbeiter schildert die Lage: "Es ist so schade um die riesigen Vorräte der Mine! Soviel Potential! Aber wir haben keine Geräte. Das ist wie in unserer Armee. Die haben ja kaum Kleidung, ein paar Socken oder gar keine. Die gehen mit Badelatschen an die Front."
Jeden Tag, erzählen sie, tauchen Militärs hier auf und ziehen die Männer zum Kriegsdienst ein.
Volodymir Burlachenko, Bergarbeiter in der Mine Novovolynsk, bekam vor dem Währungsverfall umgerechnet etwa 800 Dollar: "Jetzt ist mein Verdienst geschrumpft. Zulagen bekomme ich keine mehr. Um‘s Drei- bis Vierfache weniger verdiene ich. Und die Preise sind gestiegen. So muss ich jetzt leben!"
Wenn die Mine dicht gemacht wird, stirbt die Stadt.
Kohlekumpel Volodymir macht für uns seinen Kühlschrank auf: "Sehen Sie, Knoblauch, drei Eier, Äpfel, das war’s." Seine Wohnung hatte er halb renoviert, dann aufgehört. Jetzt hat er Schulden. Von der Rente seiner alten Mutter leben nun beide – 68 Euro bekommt sie. Die neugeborene Enkelin besuchen, Rechnungen bezahlen – ausgeschlossen.
Volodymir Burlachenko weiß um die schwierige Lage des Landes, kritisiert aber dennoch die Regierung: "In der Ukraine ist Krieg. Ein langer Streik, das wäre Wasser auf den Mühlen der Feinde der Ukraine. Damit würden wir ihnen einen Gefallen tun. Aber was können wir noch tun, um diese Kleptomanen in Kiew aufzurütteln? Die haben doch den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Die leben in einer Parallelwelt."
Die Regierung kann die Löhne nicht bezahlen.
Einen Tag später: Parallelwelt trifft Wirklichkeit. Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk und sein Innenminister besuchen die Region. Sie feiern die reformierte Polizei und ehren Soldaten. Als wir ihn fragen, warum die Kohlekumpel nicht bezahlt werden, attackiert er seinen, wie er sagt, unfähigen Energieminister.
Ministerpräsident Ukraine Arsenij Jazenjuk: "'Wieviel brauchst du', habe ich meinen Minister gefragt, 'um die ganzen Arbeitergehälter auszuzahlen?' Er sagt: '2,1 Milliarden Hrywnja.' Wem soll ich diese 2,1 Milliarden wegnehmen? Den Lehrern? Den Ärzten? Den Polizisten? Den Schulen? Soll er mir doch sagen woher!' Tausende Bergarbeiter der Region sind in den Krieg gezogen. Ihren Familien hinterließen sie leere Kühlschränke.
Autorin: Golineh Atai, ARD Moskau
Stand: 09.07.2019 03:49 Uhr
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