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Großbritannien: Broken Britain

Großbritannien: Broken Britain | Bild: SWR

Den Briten geht es finanziell so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht. Die harte Sparpolitik der Tories in Kombination mit dem Brexit und hoher Inflation treiben immer mehr Briten, selbst in der Mittelklasse, in echte Armut. Die Steuern sind so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr. Das führt zu einer erschreckenden Zunahme an Ladendiebstählen. Im Jahr 2023 wurden mehr als 400.000 Diebstähle angezeigt. Das waren knapp ein Drittel mehr als im Vorjahr. Immer mehr Menschen klauen aus purer Not. Sie nehmen Windeln und Brot. Die Hauptstadt des Ladendiebstahls ist Leeds. Für die Läden existenzbedrohend, denn die Polizei hilft ihnen nicht. Deshalb helfen sie sich jetzt selbst. Farah McNutt hat früher selbst geklaut, jetzt hat sie ein Startup gegründet, dass den zunehmend verzweifelten Ladenbesitzern helfen soll.

Kleine Läden stehen vor dem Ruin

Sie weiß, dass es jeder hier sein könnte. Denn in England wird so viel gestohlen wie noch nie. Ganze Regale werden ausgeräumt, wie selbstverständlich. Vor allem kleine Läden stehen deshalb immer häufiger vor dem Bankrott. Farah McNutt hatte irgendwann genug davon. Sie kämpft jetzt dagegen, mit einem Start-Up, der den Ladenbesitzern hilft, wenn sie sich wehren. Hirens kleiner Eck-Laden wird fast täglich bestohlen, oft kommt es dabei auch zu Gewalt. Er zeigt uns ein paar Szenen aus der vergangenen Woche, eine ältere Dame musste hinter der Kasse in Sicherheit gebracht werden. "Zuallererst versuche ich immer meine Kunden zu schützen, die haben oft Angst hier reinzukommen."

Ladenbesitzer zeigt Überwachungsmonitor
Hiren muss seinen Laden gut im Blick haben | Bild: SWR

Farah berät ihn seit Jahren, welche Technik er nutzen soll, und trainiert ihn für gefährliche Situationen wie diese. "Hier ist er auf Distanz geblieben", sagt Farah beim Betrachten von Videoaufzeichnungen, "und vertreibt die Diebe dann mit einem Regal. Das macht er wirklich gut." Die Polizei kommt, wenn überhaupt, meist erst nach einigen Stunden. Farah sorgt dann im Nachhinein dafür, dass die Überwachungsbilder registriert werden und die Fälle wenigstens zur Anzeige kommen.

Gestohlen wird Brot, Milch und Babynahrung

Sie kennt alle Tricks hier, denn sie hat selbst geklaut, als sie unter 18 war. Auf die Idee, die Seiten zu wechseln, und daraus ein Business zu machen, kam sie erst später, als sie sah, wie viele Läden deshalb zumachen mussten. "Ältere Menschen brauchen diese kleinen Läden aber doch, die können nicht irgendwohin fahren, um ihre Milch zu kaufen. Und darüber hab‘ ich damals nie nachgedacht. Du denkst einfach, die können das doch einfach ihrer Versicherung melden, aber das stimmt eben überhaupt nicht." Denn was jetzt hauptsächlich gestohlen wird, ist Brot, Milch und Babynahrung, da lohnt keine Anzeige bei der Versicherung. Farah zeigt mir zwei Frauen, als Musliminnen verkleidet, die einfach nur Lebensmittel für ihre Kinder mitnehmen. "Aber auch die müssen gestellt werden, es gibt doch Hilfe für Leute in Armut."

Bettler sitzt auf Straße
Immer mehr Briten leben in Armut  | Bild: SWR

Ganz so einfach ist das aber nicht, denn vielerorts haben die sozialen Anlaufstellen zugemacht, die Gemeinden sind pleite. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Brexit, dessen Kosten immer weiter ansteigen ist einer davon, die jahrelange Austeritätspolitik der Tories der noch wesentlichere. Was vielerorts als Letztes bleibt, ist das lokale Pub, wie hier in Sheffield. Aber auch hier ist die aufgekratzte Stimmung nur eine dünne Fassade, die sofort in sich zusammenfällt, als wir nachfragen. "Keiner hier kann seinen Familien noch ernähren. Und das ist echt ernst. Selbstmord, hast du hier überall. In den letzten zwei Wochen sind fünf hier gestorben, zwei haben sich umgebracht, drei waren krank", sagt ein Kneipenbesucher. Ein anderer Gast meint: "Jeden Tag fragst du dich, wie du durchkommst, ob du Essen für deine Familie kaufst oder die Heizung anmachst– beides geht nicht." Und: "Wir sind wütend, natürlich, aber wir zeigen das nicht wie die Franzosen, wir Engländer nehmen einfach immer alles hin."

"Eine derartige Armut wie jetzt haben wir hier noch nie gesehen"

Frau schaut Kleidung in Second-Hand-Laden an
Hier gibt es für wenig Geld Kleidung und Lebensmittel  | Bild: SWR

Vielerorts retten so jetzt nur noch sozial engagierte Einzelkämpfer die Menschen vor totaler Verwahrlosung. Menschen wie Helen. Ihr Laden, der erstmal nur wie ein Trödelladen aussieht, ist tatsächlich viel mehr. Anlaufstelle für Obdachlose, Lebensmittelausgabe für Menschen in Not. Wer kein Geld hat, kann hier für ein paar Pfund eine Jacke kaufen. Helen hilft jedem, dezent und mit viel Respekt: "Ich kann ja auch niemandem hier wirklich Hoffnung machen, dass es irgendwann besser wird. Eine derartige Armut wie jetzt haben wir hier noch nie gesehen."

Und das trifft längst nicht mehr nur die Arbeitslosen. Zoe ist Sozialarbeiterin, aber ihr Gehalt reicht bei weitem nicht aus, um ihre Kinder einzukleiden. "Helen ruft mich immer an, wenn Sachen reinkommen, die ich brauchen kann." Nachdem der Vater ihrer Kinder ihr hart verdientes Geld stahl, machte sie kurzen Prozess und warf ihn raus. Seitdem ist sie alleinerziehend, ohne Stehlen ging es oft einfach nicht, vor allem als ihre Kinder kleiner waren. "Ich brauchte Windeln, und konnte mir die nicht leisten."

Mutter mit drei Kindern an Tisch
Das Essen reicht oft nicht für die ganze Familie | Bild: SWR

Das Wissen darum, dass es keinen echten Ausweg gibt, ist auf die Dauer nur schwer zu ertragen, erzählt sie mir. "Das ist, wie wenn du versuchst dich beim Schwimmen über Wasser zu halten, aber dann kommen immer neue Wellen, und du schluckst immer wieder Wasser, während du versuchst oben zu bleiben. Das ist furchtbar, das Gefühl, wenn ich die Kinder nicht hätte, weiß ich nicht, was passieren würde." Zoes Kinder wissen um die Not ihrer Mutter, und bekommen auch mit, dass Zoe oft nichts isst, damit sie nicht hungrig zur Schule müssen. Manchmal fühle er sich schuldig deshalb, erzählt mir Lucas. "Manchmal frage ich sie, ob sie nicht doch etwas essen will, und manchmal mach ich mir deshalb Sorgen um sie. Aber das ist eben eine gute Mutter."

Mit der Armut kommt die organisierte Kriminalität

Der Staat ist aus dem Leben der Menschen hier schon lange verschwunden. Und so füllen sie die Leerstellen selbst, so gut es eben geht. Farah hat jetzt oft einen Mitarbeiter dabei, der den Ladenbesitzern zeigt, wie sie sich besser schützen können. Denn mit der Armut kommt auch jetzt schon immer häufiger organisierte Kriminalität. "Man kann das doch nicht einfach so weiterlaufen lassen. Und irgendwann kommt es zu echter Gewalt, weil die Leute damit durchkommen."

Die zunehmende Gewalt, für Helen vor allem eine Begleiterscheinung der steigenden Verwahrlosung. "Wenn ich jetzt Serien aus der Viktorianischen Zeit sehe, und da ausgemergelte Kinder mit löchrigen Schuhen, dann denke ich, ja, da sind wir jetzt wieder." Großbritannien ist eins der reichsten Länder der Welt. Und dennoch – ein Großteil seiner Menschen scheint derzeit tatsächlich auf dem Weg zurück in die dunkleren Zeiten der englischen Vergangenheit.

Autorin: Annette Dittert, ARD-Studio London

Stand: 18.03.2024 11:13 Uhr

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