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Großbritannien: Rechtsstaat ausgehebelt

Großbritannien: Rechtsstaat ausgehebelt | Bild: dpa / picture-alliance

Internationale Abkommen, Unterschriften und rechtsstaatliche Gepflogenheiten – das alles galt als selbstverständlich in einer der ältesten Demokratien der Welt. Bis Boris Johnson das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Er regiert mit Sonderverordnungen und Notstandsgesetzen. Ist der Rechtsstaat überhaupt noch zu retten, fragen sich Juristen und ein paar Demokraten.

Die Regierung in Großbritannien bricht internationales Recht

Südwestlich von London in der Salisbury-Kathedrale liegt das Dokument, das den Ruf Englands als Wiege der Demokratie und des Rechtsstaats begründet. Die Magna Charta. In der 1215 erstmals Recht und Gesetz als gültige Prinzipien definiert wurden. Ein Ruf, der jetzt ernsthaft in Gefahr ist, seit die britische Regierung öffentlich ankündigte, internationales Recht brechen zu wollen. "Ja, dieses Gesetz bricht internationales Recht", sagt Nordirland-Minister Brendan Lewis,

Urkunde der Magna Charta in der Kathedrale von Salisbury
Magna Charta von 1215: ein Meilenstein gegen Willkürherrschaft | Bild: SWR

Wir treffen Andrew Bridgen, einen der Tory Abgeordneten, der die internationale Aufregung darüber nicht versteht. "Wir haben das Recht nicht gebrochen, wir haben nur auf die EU reagiert, die selbst das Abkommen gebrochen hat, indem sie unfair verhandelt hat." – "Die EU hat klar gesagt, dass das nicht stimmt." – "Die können tun, was sie wollen, das müssen sie jetzt schlucken. Und nochmal, das Gesetz bricht ja noch nicht das Recht. Es gibt nur unserer Regierung die Möglichkeit, es zu tun. Aber wenn wir einen Deal bekommen, brauchen wir das nicht." – "Also man kann das Recht brechen, wenn man muss." – "Wir haben es ja nicht gebrochen. Ja, wir haben damit gedroht, sicher. Und ja, wenn wir dazu gezwungen werden, können wir das jetzt tun."

Es ist nicht das erste Mal, dass die Johnson-Regierung das Recht so auslegt, wie es ihr politisch passt. Im September letzten Jahres löste Boris Johnson das Parlament auf, weil er nicht die Neuwahl bekam, die er wollte. Widerrechtlich, protestierte die Mehrheit der Abgeordneten öffentlich. Nur zwei Wochen später erklärte dann auch der Supreme Court, das oberste britische Gericht, Johnsons Parlamentsauflösung für gesetzeswidrig: "The decision to advice her Majesty to prorogue parliament, was unlawful", so die damalige Präsidentin des Supreme Court, Brenda Hale.

Das Oberste Gericht: nur ein "Haufen Londoner Anwälte"?

Erleichterung bei all denen, die die Rechte des Parlaments gefährdet sahen. Wenig später aber kündigt Johnson eine Kommission an, die den Supreme Court und solche Urteile überprüfen soll. "Um so das Vertrauen in unsere Demokratie wiederherzustellen." Die Rache Johnsons für das Urteil des Supreme Courts?  Nein, sagt Andrew Bridgen. Aber: "Dieses Gericht ist nicht repräsentativ für das, was das britische Volk will. Sie sind einfach nur ein Haufen Londoner Anwälte. Wenn sie der Regierung derart reinfunken wollen, dann müssen sie in Zukunft auch genauer durchleuchtet werden." Sonst sei das undemokratisch.

Demonstranten mit Schildern mit der Aufschrift "Don't silence our MPs"
Protest gegen die Auflösung des Parlaments | Bild: SWR

Jessica Simor ist eine von vielen hohen Anwälten, die solche Sätze in Großbritannien bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätten. "Natürlich werden Richter nicht gewählt, aber das macht sie nicht undemokratisch", meint Jessica Simor vom Bingham Centre for the Rule of Law. "Aber das ist die Strategie der Regierung, sie nennen sie bewusst "undemokratisch" um sie zu diskreditieren.  Das aber ist der erste Schritt, die Justiz politisch zu kontrollieren, und das ist ein ganz gefährlicher Schritt." Hinzu kommt: Ein britischer Premier mit klarer Mehrheit kann im Prinzip machen, was er will. Denn mit der Magna Carta haben die Engländer zwar als erste die Prinzipien des Rechtsstaats umrissen, bis heute aber hat Großbritannien keine schriftliche Verfassung. Ein Umstand, der die britische Demokratie jetzt besonders verwundbar macht. "Wenn Du keine geschriebene Verfassung hast, dann bist du darauf angewiesen, dass Deine Politiker sich ordentlich benehmen", sagt Jessica Simor. "Das war hier immer so, aber jetzt ist hier eine andere Zeit angebrochen, mit sehr anderen Politikern."

Gibt es akzeptable Wege, das Recht zu brechen?

Einem Justizminister z.B., der jetzt in einem BBC-Interview erklärte, es gebe für ihn akzeptable Wege das Recht zu brechen. "Müssten sie nicht zurücktreten, wenn ihr Premier internationales Recht brechen will" wird er gefragt. "Wenn ich den Eindruck habe, das Recht wird auf unakzeptable Weise gebrochen, dann ja", so Robert Buckland. "Aber das ist hier nicht der Fall." David Gauke, der vorherige Justizminister hätte auf diese Frage sehr anders geantwortet: "Es gibt keine akzeptable Art und Weise, das Recht zu brechen. Aber es ist eben jetzt einfach so, dass es Elemente in 10 Downing Street gibt, die die Gesetze als Hindernisse sehen, die den Willen des Volkes behindern und die deshalb dem Rechtsstaat feindlich gegenüberstehen."

Jessica Simor hält die Lage für noch bedrohlicher: "In Deutschland wissen Sie, was gerade in Ungarn passiert, und ich denke, wir sind hier derzeit auf einem ganz ähnlichen Weg." Jahrhundertelang hat der Rechtsstaat in Großbritannien trotz unscharfer Verankerung gut überlebt. Wenn Johnson dessen Regeln nach dem Brexit aber weiter ungeniert verwischt, könnte die britische Demokratie bald nur noch ein Schatten ihrer selbst sein.

Annette Dittert, ARD-Studio London

Stand: 05.10.2020 11:07 Uhr

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