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Haiti: Ein Land am Abgrund

Haiti: Ein Land am Abgrund | Bild: SWR

Der Präsident ermordet, der Regierungschef vor dem Rücktritt und dazu eskalierende Bandengewalt. Haiti steht am Abgrund. Den Menschen kann der Staat nichts mehr bieten: keinen guten Job, keine Sicherheit, kein normales Leben.

Gangs kontrollieren Port-au-Prince

Jeder Schritt vor die Tür kostet ihn Überwindung. Aber Ernst Kenol braucht Benzin, muss Geld verdienen. Kenol fährt Motorrad-Taxi in Port-au-Prince. Ein lebensgefährlicher Job, denn Gangs kontrollieren fast die gesamte Hauptstadt. Jeder Stau, eine Gefahr, weil sie ihn überfallen könnten. Allein im Januar wurden 800 Zivilisten getötet, verletzt oder entführt. Wenn er könnte, würde Ernst lieber zuhause bleiben. "Es ist fast nichts los, die Institutionen arbeiten nicht. Nichts funktioniert."

Polizist vor Polizeiauto
Die Polizei muss bewaffnete Banden bekämpfen | Bild: SWR

Das Benzin frisst heute sein ganzes Geld. Kenol ist wütend, dass sein Land ihm nichts bieten kann: keinen guten Job, keine Sicherheit, kein normales Leben. Vertrauen in Politik hat er nicht mehr. Dass der Premier weg ist? Besser so, sagen er – und viele hier. Schlimmer könne es nicht werden. "Unser Problem ist, dass immer die internationale Gemeinschaft für uns ausgesucht hat. Wir Haitianer wollen aber selbst entscheiden. Wir wissen, wer eine gute Person ist und wer nicht."

Diktatoren, Epidemien und Naturkatastrophen

Haiti, ein gebeutelter Staat. Diktatoren, Epidemien und Naturkatastrophen setzen dem Land zu. Beim Erdbeben 2010 sterben mindestens 230.000 Menschen. Das Land kämpft bis heute mit den Folgen. Die USA bestimmen Haitis Schicksal mit – und Haitis Regierungen. UN-Missionen, die das Land befrieden sollen, scheitern. Die Politik ist korrupt, es gibt kaum Jobs, also werden Haitis Gangs immer mächtiger. Zuletzt attackieren sie Flughafen, Nationalpalast, Polizeistationen. Der Premierminister tritt zurück.

Hilfsorganisation verteilt Essen
Haiti ist auf Hilfslieferungen angewiesen  | Bild: SWR

Der Flughafen von Port-au-Prince bleibt geschlossen. Wir können nicht einreisen, sprechen übers Internet mit Helfern in Port-Au-Prince. Das größte Problem sei die Unsicherheit, erzählt uns der Direktor des Mercy Corps, einer US-Organisation. "Manchmal sind die Straßen verbarrikadiert", erzählt Laurent Uwumuremyi, "und die Kollegen haben Angst, ins Büro zu fahren." Unser Kamera-Team in Haiti darf ihr Büro besuchen. Die NGO hilft Bauern, etwa beim Kauf von Saatgut. Doch die Gewalt macht ihre Arbeit fast unmöglich. Laurent hat schon in vielen konfliktreichen Ländern gearbeitet. Haiti aber sprenge alles. Oft klappt nicht mal der Kontakt mit Kollegen, weil das Internet kollabiert. "Wir haben mit Vertriebenen gearbeitet. Aber wir haben keinen Zugang mehr zu den Gegenden, wo sie sind. Derzeit liegen die Tätigkeiten dort auf Eis."

Wie kommt Haiti wieder aus der Krise?

Zehntausende sind sich selbst überlassen. Aus diesem Krankenhaus sind Ärzte und Pfleger vor den Kriminellen geflüchtet. Patienten auch, wenn sie noch konnten – alle anderen liegen jetzt allein hier. Jean-Pierre hat Hautkrebs und gibt unserem Team noch diesen Wunsch mit, falls er bald stirbt: "Vielleicht kommt ja mal eine Person vom Himmel, die Haiti wieder auf die Beine stellt." Ohne Hilfe von außen schafft es Haiti derzeit nicht. Das Welternährungsprogramm lässt warmes Essen verteilen. 500 Portionen in diesem Camp für Vertriebene. 362.000 Binnen-Flüchtlinge zählten die UN zuletzt – und etwa fünf Millionen Menschen, die hungern. "Wir brauchen täglich Hilfe", sagt Jean Charles Lafortune vom Verein Giradel. "Jede NGO und Geldgeber, der unterstützt, ist willkommen."

Ernst Kenol mit seinem Sohn in der Wohnung
Ernst Kenol sorgt sich um die Zukunft seines Sohnes | Bild: SWR

Wie kommt Haiti aus der Krise? Die karibischen Staaten und die USA haben schon einen Zukunftsplan: Ein Übergangsrat aus Haitianern soll einen Interims-Präsidenten benennen und Wahlen vorbereiten. Aber lassen die Gangs das zu? Der Anführer des Aufstands, Jimmy Cherizier, verkündet eine Revolution. Und sagt: Der bewaffnete Kampf werde weitergehen. Ernst Kenol fürchtet, dass nun die Banden übernehmen. Dass er seine Familie bald nicht mehr ernähren kann. Und dass sein Sohn in Haiti keine Zukunft hat, es sei denn, er schließt sich auch einer Gang an. "Wir Haitianer lieben unser Land. Wir müssen uns zusammensetzen, und die richtige Person auswählen. Wir brauchen dafür keine Ausländer, denn jedes Mal, wenn sie für uns ausgewählt haben, sind wir tiefer in die Krise gerutscht." Dann nimmt er noch mal seinen Mut zusammen – und geht raus. Für etwas Süßes und ein paar Spaghetti. Am Ende kommt noch ein Auftrag rein und Kenol stürzt sich wieder in den Verkehr. Das Schicksal fährt dabei immer mit.

Autorin: Marie-Kristin Boese, ARD-Studio Mexiko

Stand: 18.03.2024 08:47 Uhr

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