Mo., 29.01.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Indien: Aufstand der Dalits
Pintu und Ashok hatten heute Glück. Sie wurden angeheuert für ein paar Stunden Arbeit. Kurz vorher haben sich die beiden Tagelöhner mit etwas Schnaps betäubt. Anders würden sie den Job nicht aushalten. Bis zur Hüfte steigt Ashok in die stinkende Brühe aus menschlichen Exkrementen - für umgerechnet fünf Euro am Tag. Nur mit einer Schippe macht er den verstopften Kanal wieder frei. Ashok erklärt: "Einen anderen Job bekomme ich doch nicht. Was soll ich sonst machen? Ich muss meine Familie ernähren. Also ist das hier noch das Beste."
Eigentlich ist diese entwürdigende Arbeit gesetzlich verboten. Doch Pintu und Ashok sind Dalits, "Unberührbare", wie sie früher genannt wurden. Da schauen die Behörden nicht so genau hin. Für Pintu bedeutet die Arbeit eine Notwendigkeit: "Viele Leute denken, es sei ein Scheiß-Job. Ich finde das nicht. Wir reinigen auch Latrinen mit bloßen Händen. Wie soll’s denn auch sonst gehen, wenn die verstopft sind? Für uns ist das ein Brot- und Butter-Job."
Gefährliche Arbeit
Die Arbeit ist gefährlich. In größeren Sickergruben wird die Luft oft knapp. 300 Kanalreiniger sind in Indien letztes Jahr erstickt oder im Abwasser ertrunken. Inder aus den höheren sozialen Schichten scheren sich wenig um das Schicksal der Dalits. Rücksicht nimmt sowieso keiner. Im 4000 Jahre alten Kastensystem der Hindus stehen die Dalits auf der untersten Stufe – noch immer, obwohl das Kastenwesen seit 70 Jahren offiziell abgeschafft ist. Ohne Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg fällt es Dalits wie Ashok schwer, sich ein bisschen Würde zu bewahren. Es ist zehn Grad kalt an diesem Tag: Ashok muss sich auf der Straße waschen: "Ich muss mich zwei-, dreimal einseifen, damit der Gestank weggeht. Außerdem werde ich krank ansonsten: die ganzen Bakterien. Ganz oft hatte ich auch schon Hautausschlag."
Seit Jahren kämpft der Dalit Aktivist Bezwada Wilson gegen die Benachteiligung: Er will nicht hinnehmen, dass die 250 Millionen Dalits wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden: "Von allen Menschen, die in Indien hungern müssen und unterhalb der Armutsgrenze leben, sind 90 Prozent arm, weil sie zu den 'Unberührbaren' gehören. Sie sind arm, weil ihnen alle Möglichkeiten vorenthalten werden. Sie sind arm, weil sie nicht einmal den Mindestlohn bekommen. Sie sind arm, weil die Regierung nichts dagegen unternimmt. Sie sind arm, weil sie in die unterste Kaste geboren wurde."
Dalit-Aktivisten
In einem Studentenwohnheim in Delhi treffen sich Dalit-Studenten: Trotz Quoten bei den Studienplätzen werden sie benachteiligt, oft sogar verprügelt, manchmal nur, weil sie Schnurrbärte tragen. Hindu-Fundamentalisten finden, das sei nur den oberen Kasten erlaubt. Die Dalit-Studenten posten deshalb in den sozialen Medien. Sie wollen stolze Dalits sein – mit Schnurrbart. Student Devashish Jarariya: "Ich sage, wenn das schon ausreicht, um ein überlegenes Kastengefühl zu verletzen, dann werden wir unsere Schnurrbärte erst recht zwirbeln. Und ich appelliere an alle Jugendlichen, die genug haben von dem elitären Kastensystem: Lasst euch auch einen Schnurbart wachsen."
Selbstbewusste Dalits, das passt vielen reaktionären Hindus gar nicht. Vor wenigen Tagen griffen in Südindien Hindu-Fundamentalisten eine Dalit-Gedenkveranstaltung an: Steine flogen, ein Mensch kam um Leben. Darauf erhob sich im gesamten Land Protest. In Mumbai stoppten Dalits den Zugverkehr, legten kurzzeitig das gesamte öffentliche Leben lahm.
Erfolgreiche Dalits
N K Chandan ist einer von wenigen Dalits, die es wirtschaftlich geschafft haben. Als kleiner Angestellter hat er in dieser Kunststofffabrik angefangen, sich hochgearbeitet und schließlich die Firma übernommen: 50 Angestellte, hauptsächlich Dalits, ein mittelständischer Unternehmer. Das war nicht immer einfach. Wenn er bei der Bank einen Kredit aufnehmen will, bekommt er oft Absagen, erzählt er uns, weil schon sein Name verrät, dass er ein "Unberührbarer" ist: "Wir müssen härter arbeiten als andere. Das Problem ist, dass wir auf finanzielle Unterstützung von höheren Kasten angewiesen sind. Es gibt einfach keine anderen Dalits, die genug Geld hätten, um mir welches leihen zu können."
Zuhause lebt N K Chandan das Leben der oberen Mittelschicht: Die Kinder studieren. Er hat Hausangestellte, die zum Teil oberen Kasten angehören – verkehrte Welt. Chandan weiß, dass er eine absolute Ausnahme ist, denn spätestens die Nachbarn lassen ihn spüren, dass sie ihn nicht als einen von ihnen anerkennen: "Solange Sie ein kleines Auto oder ein billiges Motorrad fahren, ist alles in Ordnung. Aber wehe, Sie kaufen sich einen Honda oder einen BMW. Dann werden die Nachbarn neidisch und fangen an, überall herum zu erzählen, dass ich es ja doch nur wegen staatlicher Förderprogramme geschafft hätte."
Staatliche Förderprogramme für Dalits gibt es zwar, doch die sind nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Die Kanalarbeiter Ashok und Pintu können davon nur träumen. Ashok lebt mit seiner Frau in einem Slum in Delhi. Die gesamte Wohnung: gerade mal zehn Quadratmeter. Die zwei Kinder sind bei den Großeltern in Kalkutta, 1500 Kilometer weit weg: "Meine Kinder sind der Grund, warum ich diesen Job mache. Sie sollen eine Ausbildung bekommen. Und dafür muss ich eben in den Kanal steigen." Seine Frau Renu ist betroffen: "Wenn er nach Hause kommt, fühle ich mich schlecht für ihn. Ich will nicht, dass er diesen Job macht. Aber was bleibt uns denn übrig? Unsere Kinder sollen es einmal besser haben."
Für Ashok dagegen bleibt nur die Hoffnung, dass er auch morgen wieder für Menschen höherer Kasten den Dreck wegmachen darf.
Autor: Peter Gerhardt, ARD Neu-Delhi
Stand: 01.08.2019 01:05 Uhr
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