So., 01.03.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Indien/Deutschland: Antibiotika werden knapp
Der Grundstoff für die Antibiotika-Produktion reicht noch für maximal drei Wochen, meint der indische Pharmaproduzent P.N. Pandey. Und das auch nur, weil sie vergangene Woche noch einmal eine Lieferung aus der Türkei bekommen hätten, doppelt so teuer wie sonst.
Denn der Grundstoff für das Antibiotikum kommt aus China, wie rund 80 Prozent aller Vorprodukte, die in Indiens Pharmaindustrie verarbeitet werden. Das Coronavirus führt schon jetzt zu Engpässen und zu Preissteigerungen – in Indien und bald auch bei uns in Deutschland, sagen die Hersteller.
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Vorräte noch für vier Wochen
Es ist laut, stickig und stinkt gewaltig. Antibiotika-Produktion ist schmutzig. Noch laufen die Kessel bei Penam Laboratories in der Nähe von Neu-Delhi auf Hochtouren. 150 Tonnen produzieren sie hier im Monat. Antibiotika-Wirkstoffe gegen leichte Infekte. Der Chef, P.N. Pandey, zeigt uns das Endprodukt. Ein weißes Pulver, das er in 60 Länder exportiert, auch nach Europa. Dort wird es in Tabletten gepresst. Dann zeigt er uns die Lagerhalle mit den Grundstoffen. Die Vorräte reichen für maximal vier Wochen. Der Nachschub aus China bleibt aus. Andere Lieferanten gibt es nicht. "Der Corona Virus im letzten Monat war verheerend für die Lieferkette. Wenn sich die Dinge nicht normalisieren, wird es nur noch zwei bis drei Monaten dauern, bis weltweit die Antibiotika knapp werden." Alle drei Lieferanten der Firma sitzen in China. Keiner davon kann derzeit liefern. Eine Charge hat Pandey gerade noch ergattert, erzählt er uns. Per Luftfracht habe er sie über den Umweg Türkei nach Indien geholt. Zum doppelten Preis. Aber sonst würden die Maschinen hier bereits stillstehen.
Indien ist komplett abhängig von Medikamenten-Grundstoffen aus China. Bis zu 80 Prozent kommen von dort. Früher wurde auch in Indien produziert. Doch die Chinesen sind billiger. Hinzu kommen Umweltauflagen. Auch das 30 Jahre alte Werk von Penam würde in Indien so heute nie mehr genehmigt. "China hat in den letzten 25-30 Jahren gesehen, dass der Rest der Welt aufgehört hat, Antibiotika-Grundstoffe zu produzieren. Viele Industrieländer haben sogar ganz verlernt, wie man Antibiotika herstellt. Sie haben sich gesagt: Lass doch andere sich die Finger schmutzig machen. Deshalb haben sie es China überlassen."
Komplexe Lieferketten für Medikamente
Acht Flugstunden entfernt: Esslingen bei Stuttgart. Wenn Christof Mühlschlegel Antibiotika-Packungen studiert, liest er zwar "Heppenheim". Doch das ist nur der letzte Ort in einer langen Kette. Die Wirkstoffe kommen zumeist aus Asien. "Das ist grad ein Problem im Bereich der Antibiotika. Die kommen vor allem aus China. Das heißt, wenn hier mal eine Lieferkette unterbrochen wird, dann kann es auch für uns in Deutschland, in Europa, auch weltweit zu Problemen kommt, weil einfach der Nachschub fehlt."
Lieferengpässe – schon jetzt sind sie Alltag: bei Blutdrucksenkern, Schmerzmitteln. An Corona liege das bisher nicht. Doch nun sind Transportwege in China unterbrochen. Wie wir das genau spüren, kann derzeit keiner sagen. Die Lieferketten für Medikamente sind komplex und nicht transparent. "Wenn Sie Hersteller sind, geben Sie natürlich nicht preis, wo sie welche Stoffe her beziehen, zu welchem Preis und in welcher Menge", erklärt Morris Hosseini von der Unternehmensberatung Roland Berger. "Das ist in anderen Industrien ähnlich. Der Einkauf von Stoffen ist natürlich auch ein Wettbewerbsvorteil."
Jetzt fragt die zuständige Behörde auch mal bei den Firmen nach. Verschafft sich ein Lagebild. Aktuell, heißt es, deute nichts auf eine kurzfristige Einschränkung der Versorgung hin. Auch die Pharma-Firmen geben sich demonstrativ gelassen: Bis auf weiteres werde es keine gravierenden Auswirkungen auf Produktion und Vertrieb geben. Man habe ausreichende Lagerbeständige angelegt. Und könnte deshalb zeitlich befristete Lieferunterbrechungen auffangen. Aber wie lange? Die Dauer der Epidemie ist unklar. Wie lange die Lager gefüllt sind, auch. Engpässe würden uns ohnehin zeitversetzt treffen.
Experten mahnen, GRUNDSÄTZLICH nachzudenken: Der Preisdruck vor allem bei Nachahmer-Medikamenten habe zur Abhängigkeit von China geführt. Der Apotheker aus Esslingen fände es richtig, Teile der Produktion zurückzuholen. Der Wettbewerb jetzt sei ruinös. "Wo ist dann mal das Ende der Fahnenstange erreicht für den Hersteller, für die Versorgungsqualität, dass man sagen kann, so geht es nicht weiter, wir müssen das wirklich zurückverlagern nach Deutschland, nach Europa."
Wucherpreise in Zeiten der Corona-Krise
Zurück in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Immer wieder muss Apotheker Amit Bansal aufgeregte Kunden beruhigen. Patienten haben ihm erzählt, das Schmerzmittel Paracetamol sei nur noch schwer zu bekommen. Auch dafür kommt der Grundstoff aus China. Bansal hat noch Vorräte. Aber auch er hat von Kollegen gehört, die plötzlich Wucherpreise verlangen. Das ist illegal und unverschämt, findet er. "Es ist schrecklich mit diesen Gerüchten. Die Kunden fragen uns: Werden die Medikamente knapp. Wir sagen ihnen: Bisher nicht. Bislang gibt es keine Knappheit in Indien."
Pharma-Unternehmer P.N. Pandey will zwar nicht als Schwarzseher gelten. Doch er mahnt, bald schon könne die Produktion stoppen, wenn nicht schnell wieder Nachschub kommt. Die indische Regierung denkt sogar schon darüber nach, den Export von Antibiotika einzuschränken. Das könnte dann auch Europa empfindlich treffen.
Autoren: Peter Gerhardt, ARD-Studio Neu-Delhi / Marie-Kristin Boese, SWR
Stand: 02.03.2020 10:27 Uhr
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