Mo., 31.10.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Indien: Wenn der Doktor nur noch per Mausklick kommt
Fortschritt hat in Bodhgaya eine lange Tradition. Vor zweieinhalbtausend Jahren soll der Buddha hier erleuchtet worden sein. Bis heute kommen täglich Tausende her, suchen Inspiration und Gesundheit, für die Seele und den Körper. Doch wer ernsthaft krank ist und womöglich arm dazu, ist hier arm dran. Das örtliche Krankenhaus: überaltert, überfüllt, symptomatisch für die ganze Region. Auf 10.000 Menschen kommt ungefähr ein Krankenhausbett – und ein Arzt mit oft zweifelhafter Qualifikation. Das findet jedenfalls Jadu Yadav. Der Bauer lebt in einem Dorf, 20 Kilometer entfernt. Seit Monaten leidet er unter Magenschmerzen und Fieberattacken. Er macht sich fertig für einen Arztbesuch. Der Arzt ist Experte, aber weit weg, in der Hauptstadt Delhi. Jadu und seine Mutter sind gespannt.
Jadu Yadav ist zuversichtlich: "Es ist toll, dass ich gleich mit einem echten Fachmann reden kann. Er wird mir sicher etwas verschreiben, was mir hilft." Nachbarin Nitu, die chronische Handgelenkschmerzen hat, will mit zum Facharzt. Jadu hat ihr erzählt, die Beratung koste nur umgerechnet einen Euro fünfzig – erschwinglich auch für arme Leute vom Land, denn Jadu Yadav meint: "Hier im Dorf gibt es auch gar keinen Arzt, und die im Nachbarort sind schlecht."
Aber dort gibt es ja neuerdings das Telemedizinzentrum. Jadu und Nitu gehen die fünf Kilometer zu Fuß, auch, wenn Jadu dabei jeder Schritt schmerzt.
Tausend Kilometer westlich, eine andere Welt. Am Stadtrand von Delhi haben sich viele High-Tech-Firmen niedergelassen. Arzt Avneesh Gautam arbeitet bei einem Gesundheitszentrum, das Onlineberatung für arme Regionen anbietet und dafür vom Staat subventioniert wird. Avneesh und seine Kollegen wissen um die Grenzen der Technik und dass sie mit ihren Ferndiagnosen oft nur an der Oberfläche bleiben können, wie Arzt Avneesh Gautam eingesteht: "Ehrlich gesagt, ist es manchmal etwas heikel. Wenn der Patient unmittelbar vor mir sitzt, kann ich ihn genau untersuchen. Und so muss ich ganz nach dem optischen Anschein gehen."
Alles bereit für die virtuelle Sprechstunde. Jetzt müssen sich nur noch die Patienten melden. Nadu und Nitu sind inzwischen in ihrem Nachbarort angekommen. Sie passieren die Praxis des hiesigen Doktors, von dem man nur die Füße sieht und auf dessen Dienste sie lieber verzichten. Der Eingang zum Telemedizinzentrum – allerdings auch nicht sehr vielversprechend. "Silicon Cyber Cafe" heißt es und bietet verschiedene digitale Dienstleistungen an, darunter eben den Zugang zum Teledoktor. Die Betreiber mühen sich, die Verbindung nach Delhi aufzubauen. Inhaber Om Prakash Bharti freut sich: "Wenn die Ärzte nicht in die Dörfer kommen, dann müssen die Dörfer eben zu den Ärzten kommen. Und das Beste: die Ärzte sind 24 Stunden nonstop erreichbar. Man braucht nur eine Internetverbindung."
Aber trotz Hilfe eines Technikers dauert es eine halbe Stunde, bis die Verbindung steht. Und das Gespräch dauert nochmal so lange, weil mal der Ton weg ist, mal das Bild: "Haben Sie manchmal Brechreiz?", fragt der Arzt, der ins Handy sprechen muss, weil das Computermikrofon nicht funktioniert. "Ja, manchmal erbreche ich mich." "Wie lang geht das schon so?" "Ein, zwei Monate."
Jadu sieht meistens nur den leeren Bildschirm und bekommt auch keine Diagnose, nur den Tipp, ins Krankenhaus zu gehen, für genauere Tests. "Aber", sagt der Doktor, "ich verschreibe Ihnen eine Medizin, die den Schmerz lindert." Jadu bedankt sich noch, der Arzt sagt, er sei gespannt auf die Testergebnisse und ihr nächstes Gespräch. Dieses ist nun zu Ende, ausgerechnet, als die Bildübertragung endlich klappt. Egal.
Teledoktor Avneesh Gautam wirkt erleichtert: "Die Telemedizin hat viel Potential. Natürlich muss die Technik besser werden. Aber für mich sieht die Zukunft rosig aus." Jadu hätte gerne länger mit dem Arzt geredet. Aber inzwischen sind immer mehr Patienten dazu gekommen, warten, dass er Platz macht: "Ich hole jetzt die Arznei und hoffe, dass sie hilft."
Jetzt ist Nitu an der Reihe. Bei ihr ist die Internetverbindung einwandfrei. Sie bekommt von Doktor Avneesh eine Salbe verschrieben – und die Zusicherung, dass die Schmerzen bald verschwinden werden. Patientin Nitu Kumar: "Ich finde, das ist ein echter Fortschritt. Ich kann auf diese Art mit einem Fachmann reden, der mich richtig therapiert." Bei der Apotheke auf der anderen Straßenseite legen Jadu und Nitu die Rezepte vor, die sie sich eben haben ausdrucken lassen und warten – vergeblich. Der Apotheker bedauert: "Ich habe nur das auf Lager, was die Ärzte hier verschreiben. Hustensaft und Aspirin könnt ihr haben. Für die Medikamente auf eurem Rezept müsst ihr in die Stadt. Vielleicht habt ihr da Glück."
Also doch die ganze Strecke nach Bodhgaya, der Buddha-Stadt. Der Weg in die schöne digitale Welt ist für Jadu und Nitu doch länger und komplizierter als gedacht.
Autor: Markus Spieker, ARD Neu Delhi
Stand: 13.07.2019 03:20 Uhr
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