Mo., 08.10.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Irak: Die Drachenflieger
Mit viel Schwung und wenig Wind. Nur ein paar Sekunden von einem flachen Hügel. Endlich wieder fliegen. Sekunden des Glücks und der Freiheit nach bitteren Jahren.
"Wenn ich fliege, fühle ich mich erhaben, entspannt, mein Kopf wird klar"
"Freiheit, Einsatz, Erschöpfung. Alle Gedanken driften ab. Wenn ich fliege, fühle ich mich erhaben, entspannt, mein Kopf wird klar", erzählt der Fallschirmspringer Nour Abbas. Drei Jahre durften die Jungs aus Mosul nicht springen. Die Terrormiliz IS verbot den Sport. Nour traf das besonders hart. Gleitschirmspringen ist seine Leidenschaft. Kaum hatte er sie für sich entdeckt, war 2014 damit Schluss. Er fürchtete um sein Leben, versteckte seine Ausrüstung.
"Ich hatte Angst, das auch nur zu erwähnen. Sie konnten Dich dafür einsperren und umbringen. Einige Leute aus unserem Club haben sie hingerichtet, Trainer und Piloten", so Nour.
Neustart nach der Befreiung von Mosul. Mit Spenden und Clubbeiträgen kommt genug Geld für fünf Gleitschirme zusammen. Die ersten Geh- und Flugversuche verlaufen nicht ganz pannenfrei. Einige fangen bei null an. Andere sind außer Übung.
Trainer Thamen Hamied hat alle Hände voll zu tun. Und doch ist es gelegentlich mehr Rutschen als Gleiten. Blaue Flecken und Blessuren bleiben da nicht aus. Und doch haben sie reichlich Spaß. Ali ist seit April dabei. Der 24-Jährige trainiert mit viel Leidenschaft, hat Talent, genießt es, dem Himmel näher zu sein. "Ich habe keine Angst mehr, nicht mehr vor dem IS, und auch nicht davor zu fliegen, vor großen Höhen. Nein, die Angst ist weg", sagt Ali.
Seit der Befreiung läuft der Wiederaufbau
Angst, die das Leben der Menschen drei Jahre überschattete, auch im Dorf gegenüber. Eine der wenigen christlichen Gemeinden im Irak. 820 Familien lebten einst in Karemlisch. Die meisten flohen im August 2014. Kurz bevor IS-Milizen über das Dorf herfielen, eine Spur der Verwüstung hinterließen. Seit der Befreiung vor zwei Jahren läuft der Wiederaufbau. 320 Familien sind zurück. Viele andere haben sich ins Ausland abgesetzt. Pfarrer Sabet versucht, der Gemeinde wieder Leben einzuhauchen. Proben für die Erstkommunion. Auf den jungen Christen liegt nun die Hoffnung des ganzen Dorfes nach all dem Leid.
"Überall Zerstörung. 240 Häuser wurden abgebrannt, 100 völlig zerstört. Auch Friedhöfe, Kirchen, Kindergärten, Schulen, Straßen. Selbst Bilder und Symbole. Familien wurden Möbel gestohlen. Das Dorf ähnelt einem Friedhof", erzählt Thabet Youssef, Pfarrer Gemeinde Karemlisch.
Trümmer und Traumata
Der Islamische Staat ist Geschichte. Sein Erbe bleibt: Trümmer und Traumata. Auch gut ein Jahr nach der Befreiung von Mosul. Gleitschirmspringer Nour schneidet heute wieder Haare, rasiert Bärte. Er liebt seinen Job als Friseur. Aber auch das war ihm verboten in der Zeit des Terrors. Als er einem älteren Mann den Bart trimmte, schlugen die Sittenwächter des IS zu. "45 Peitschenhiebe. Ich bin drei Tage lang nicht mehr rausgegangen und habe meinen Laden zugemacht. Das war die Strafe für Verletzungen der Rasiervorschriften. Dann habe ich als Taxifahrer gearbeitet", so Nour.
Und sein Sportsfreund Ali bringt heute wieder Farben zurück nach Mosul. Nach den dunklen Jahren der Terrormiliz. Als der Dekorateur vor zwei Jahren den Bart zu kurz trug, wies ihn ein IS-Wächter schroff zurecht. Es kam zum Streit, er schlug zu, musste teuer dafür bezahlen.
"Ich hatte Angst um mein Leben. Sie folterten mich mit Kabeln, Stromstößen, Verbrennungen. Sie erhitzten etwas und verbrannten unsere Körper. So etwas Schlimmes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt", erzählt Ali.
Nun fliegen sie wieder, um all das zu vergessen, um ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen. Wie kostbar sie ist, das wissen die Gleitschirmspringer von Mosul heute mehr denn je.
Autor: Daniel Hechler / ARD Studio Kairo
Stand: 28.08.2019 11:08 Uhr
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