So., 26.01.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Israel: Lebendige Erinnerung
Sie programmieren Computerprogramme für die Zukunft. Die hippe Start-Up-Szene in Tel Aviv. Aber auch die Vergangenheit spielt eine große Rolle.
Mit Bildern von Holocaust-Opfern konfrontieren
Viele der jungen IT-Experten haben Holocaust-Überlebende oder -Opfer in ihren Familien. Und jetzt wurde eine App entwickelt, die die 16-jährige Tamar ausprobieren soll. Die App heißt 'Mein Holocaust-Zwilling'. Basierend auf einer Software zur Gesichtserkennung soll sie Tamar mit dem Bild eines Holocaust-Opfers konfrontieren, das ihr ähnlich sah.
"Es ist ein bisschen beängstigend, dass ich gleich jemanden sehe, der wie ich aussieht und im Holocaust umkam. Aber ich bin neugierig", erzählt Tamar Lorman, Schülerin.
Die jungen Entwickler haben tausende Fotos von verschiedenen Datenbanken eingelesen. Die Gesichtszüge der Holocaust-Opfer werden nun mit denen von Tamar abgeglichen. Das Ergebnis wird sie in Kürze sehen.
"Bisher haben wir alle damit geschockt und das wollten wir auch", so Naor Haymov, Entwickler. "Aber zuerst haben alle gedacht, die Idee ist verrückt und zu gewagt", erzählt Chen Mor, Entwickler. "Wir wollten eben die junge Generation für das Thema Holocaust-Gedenken erreichen", erklärt Yoav Elroi, Entwickler.
Unterschiedliche Formen der Erinnerung
Eine Generation, die in der digitalen Welt zu Hause ist. Einige Zeit vor dem Versuch mit der App, haben wir Tamar und ihre Mitschüler bei einem Seminar besucht. Wie jede Schulklasse in Israel setzen sie sich intensiv mit dem Holocaust auseinander. Und mit möglichen Formen der Erinnerung. So etwa mit diesem Youtube-Video: Der Holocaust-Überlebende Adolek Kohn tanzt mit Enkeln und Urenkeln in Ausschwitz und anderen Vernichtungslagern zum Song: 'I will survive!' – 'Ich werde überleben!' Schockieren um das Gedenken wachzuhalten. Darf man das? Funktioniert das?
"Das ist ja ein Siegestanz. Wenn wir sonst an Holocaust denken, denken wir an etwas abgrundtief Trauriges. Aber es kann eben auch ein Sieges-Tanz sein", findet Tamar Lamar.
"In Auschwitz tanzen...das kann ich nur schwer verstehen. Das ist ein Konzentrationslager, der ganze Ort eine Gedenkstätte. Wenn ich in einen Friedhof gehe, schweige ich doch auch, aus Respekt vor den Toten", sagt Gili Eden, Schüler.
Testament für nachfolgende Generationen
Und dann kommt er: Yaacov Gutterman. 1935 in Polen geboren. Er hat nur deshalb überlebt, weil katholische Familien den jungen Juden versteckt haben. Yaacov zeigt ihnen einen Brief, den sein Vater hinterlassen hat, bevor ihn die Nazis ermordeten. Er hat eine Art Testament für die nachfolgenden Generationen geschrieben. Und es in einer Flasche im Boden vergraben. Wo es Jahre später gefunden wurde.
"Noch größer als die Angst, die mein Vater vor den Nazis hatte, war seine Angst, dass die Menschheit nicht davon erfährt, was die Nazis uns angetan haben", erzählt Yaacov Gutterman, Zeitzeuge.
Eine Angst, die auch Yaacov in den Genen steckt. Was passiert, wenn er und die anderen letzten Überlebenden ihre Geschichten nicht mehr erzählen können? Er fleht die Klasse regelrecht an, seine Botschaft weiterzutragen.
"Ich bitte Euch, bemüht Euch! Euer ganzes Leben lang, dass wir so viel wie möglich gute Menschen auf dieser Welt haben. Und nicht die anderen. Versprecht ihr mir das", fragt Yaacov Gutterman.
Tamar ist tief beeindruckt. "Während des Vortrags habe ich die ganze Zeit gedacht, wie glücklich wir uns schätzen können, dass wir die letzte Generation sind, die noch mit den echten Überlebenden sprechen kann. Unseren Kindern wird das nicht mehr möglich sein".
Anreiz um mehr darüber zu erfahren
Für sie muss es andere Möglichkeiten des Erinnerns geben. Etwa die Gesichtserkennungs-App, die Tamar jetzt testet. Und die sie mit ihrem Holocaust-Zwilling konfrontieren wird. Als das Ergebnis schließlich erscheint, herrscht absolute Ruhe im Raum. Es ist ein Kind. Am 10. November 1929 in Prag geboren. Artur Braun wurde nur 13 Jahre alt. Ermordet im Konzentrationslager Theresienstadt. Auf dem Foto aus glücklichen Tagen ist er mit seinem jüngeren Bruder zu sehen.
"Wenn ich dieses Kind sehe, also ich bin ja auch noch irgendwie ein Kind. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass jemand, der noch jünger war als ich, ermordet wurde...", so Tamar Lorman.
"Wir geben dir hier auch nur den Anfangspunkt einer Geschichte. Unser Wunsch wäre, dass du nun neugierig bist, mehr darüber zu erfahren", sagt Yoav Elroi.
"Ja, absolut. Das Treffen mit dem Holocaust-Überlebenden war schon sehr emotional. Aber die Überlebenden sind jetzt eben ältere Menschen. Es ist schwer, sie sich jung vorzustellen. Bei solchen Bildern hier, läuft noch eine ganz andere Geschichte im Kopf bei mir ab", erzählt Tamar Lorman.
Tamar weiß, sagt sie dann noch, dass sie das Bild des kleinen Artur, der im Holocaust ermordet wurde und der ähnliche Gesichtszüge wie sie hatte, nicht mehr vergessen wird.
Autorin: Susanne Glass/ARD Studio Tel Aviv
Stand: 26.01.2020 20:42 Uhr
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